Wladimir Putin greift in seinen Ansprachen an die Nation auf ein Begriffsfeld zurück, das stark mit der Geschichte Russlands verwoben ist. „Faschismus“, „Faschisten“, „Nazismus“, „Entnazifizierung“ und „Nazis“ sind zu Begriffen geworden, die die politische Sprache Russlands seit dem Überfall auf die Ukraine prägen. Dieses Vokabular könnte aus einem Geschichtsbuch stammen: Es sind Begriffe, die widerspiegeln, wie man in Russland über den Zweiten Weltkrieg (in Russland „Großer Vaterländischer Krieg“) gesprochen und gedacht hat.
Juliane Fürst legt in ihrem Aufsatz die Geschichte dieser Begriffe in der russischen und sowjetischen Gesellschaft dar. Während des Zweiten Weltkriegs sei noch die Rede von „deutschen Invasoren“ oder „deutsch-faschistischen Invasoren“ üblich gewesen. Die alleinige Bezeichnung als „Faschisten“ war ein Produkt der normierten Rhetorik in den Nachkriegsjahren. Die Bezeichnung als „Faschist“ entfernte den ethnischen Bezug auf die Deutschen, was der Sowjetunion die Möglichkeit gab, die DDR als „gutes Deutschland“ darzustellen. Zugleich ermöglichte die Entfernung des deutschen Bezugs die Integration nicht-deutscher NS-Kollaborateure. Unter diesen Bedingungen sei die Verwendung von nationalsozialistischen Symbolen ab den 1970er Jahren zu einem Zeichen von Ablehnung des sowjetischen Systems geworden. Vor allem in Hippie-Kreisen und in der Heavy Metal-Szene wurde das Hakenkreuz zu einem Gegensymbol für die Sowjetunion gemacht, denn NS-Deutschland war der radikalste Kontrast zur antifaschistischen Sowjetunion. Mit der Zeit verlor nicht nur der Kommunismus seine Wirkmacht, auch der Faschismus wurde verharmlost und zu einer Chiffre degradiert.
Diese Verharmlosung fand in der postsowjetischen Welt ihr Ende: Das Gedenken an die russischen Opfer im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg wurde zum zentralen Bezugspunkt der russischen Identität in der Ära Putin, so Fürst. „Opfer“, „Genozid“, „Faschismus“ und „Antifaschismus“ sind elementare Begriffe, die mit dieser Identität einhergehen. Dass Putin von einer „Entnazifizierung“ der Ukraine spricht, also die emotionalisierende Rhetorik des Zweiten Weltkriegs nutzt und als wirksam für seine Ansprache an das eigene Volk erachtet, ist für Juliane Fürst eine klare Fehleinschätzung. Putins Reden würde es an Gegenwärtigkeit mangeln: „Faschist“ habe bereits seine symbolische Kraft verloren, nur in älteren Generationen stößt der Begriff noch auf Resonanz.
Während Juliane Fürst die Rhetorik Putins als schwach einstuft, verweist Jason Stanley, Philosophieprofessor an der Universität Yale, auf einen wirkmächtigen Aspekt von Putins Rhetorik. Diese enthalte antisemitische Elemente, die an eine weltweit vernetzte rechtsextreme Szene anschlussfähig seien. Er ordnet die Äußerungen Putins über die Ukraine in das Muster antisemitischer Verschwörungstheorien ein. Die Ukraine befände sich unter der Herrschaft einer jüdischen Elite (Präsident Selenskyj ist Jude) und Putin sehe sich als Anführer des russischen christlichen Nationalismus, der die „nationale Schwäche und moralische Unreinheit“ der Ukraine beseitigen will. Weiter geht Stanley davon aus, dass diese Verschwörung auch mit der Holocaustleugnung einhergeht: Im antisemitischen Denken Putins seien nicht Juden die Opfer des Holocaust, sondern russische Christen. Die Propaganda Putins sei folglich auch gar nicht an den Westen gerichtet, sondern an christliche Nationalisten im eigenen Land. Stanleys Argumentation steht somit der Argumentation von Fürst diametral gegenüber: Während Stanley dafür plädiert, dass die Rhetorik Putins auf globaler Ebene wirksam ist, bezeichnet Fürst Putins Sprachgebrauch als eine Fehleinschätzung gegenüber der eigenen Bevölkerung, der aufgrund der Entwicklung der politischen Sprache in der Sowjetunion seine Macht verloren hat.