Was unterscheidet eine Sprache von einem Dialekt? Das wohl bekannteste Zitat dazu, „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine“, wurde in den 1940er Jahren von dem jüdischen Sprachwissenschaftler Max Weinreich populär gemacht. Weinreich forschte zeitlebens unter anderem maßgeblich zur dialektalen Struktur des
Kloss prägte in seinen Werken die Begriffe „Abstandsprache“, „Ausbausprache“, und „polyzentrische Sprache“, um verschiedene Konstellationen und Machtgefälle von Mehrsprachigkeit zu erfassen. Die Begriffe „Abstand“ und „Ausbau“ bilden dabei jeweils eine eigene Beschreibungsebene und finden als deutsche Lehnwörter (z.B. im Englischen: „Abstand languages“) auch in der internationalen Fachliteratur Verwendung. Sprachlicher Abstand bezeichnet in Kloss‘ Sinne die strukturellen Unterschiede zwischen Sprachen und Dialekten. Er definiert nicht näher, ob es dabei beispielsweise um Wortschatz, Lautinventar oder Grammatik geht. Seine Darstellung lässt auf eine wahrnehmbare Eigenständigkeit im Bezug auf benachbarte und verwandte Sprachen schließen. Abstand ist etwas Hör- und Messbares: Zwei Sprachen sind also je mehr Abstandsprachen, desto weniger sie gemeinsam haben und desto weniger sie entsprechend gegenseitig verständlich sind.
Kloss’ Verständnis von Abstand ist dabei ein rein strukturelles, kein geographisches. Die verschiedenen
Der zweite Begriff, „Ausbau“, steht im Zentrum von Kloss’ Betrachtung. Hiermit beschreibt er einen Zustand erfolgreich durchgeführter und fortlaufend greifender Sprachplanungsarbeit seitens der Sprachgemeinschaft, die mit einem Grad der Standardisierung einhergeht – in heutigen Zeiten zumeist, wie bereits angemerkt, mit Verschriftlichung. Dies ist oft ein politisch gesteuerter und subventionierter Prozess. Der namensgebende Ausbau der Sprache fußt dabei auf der Vorstellung, dass die Sprecher*innen ihr primäres Ausdrucksmittel in jedem Lebensbereich verwenden können: Sei es die Diskussion von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, ein Schlaflied, eine politische Debatte oder ein neues Kochrezept.
Die meisten größeren Sprachen der Welt sind sowohl Abstand- als auch Ausbausprachen: Englisch, Chinesisch, Hindi, Spanisch, Französisch, Arabisch, um nur einen kleinen Auszug aus der Liste der meistgesprochenen Sprachen der Welt zu bemühen. Sie taugen für alles von flapsigen Alltagssprüchen mit Arbeitskolleg*innen über Gesetzestexte bis hin zur Diskussion von Quantenphysik. Auch Deutsch zählt dazu. Viele kleinere Sprachen aber ließen sich nach Kloss‘ Konzeptualisierung nur als Ausbausprachen, nicht jedoch als Abstandsprachen klassifizieren. Häufig gebe es besonders in benachbarten Gebieten ausgebaute Standardsprachen, die zwar für alle landläufigen Zwecke als separate Sprachen gehandhabt werden, einander strukturell aber extrem ähnlich seien: Entdeckten Linguist*innen solche Sprachen heute, würden sie diese vermutlich als eng verwandte Dialekte beschreiben. Kloss nennt als Beispiele europäische Sprachpaare wie Dänisch und Schwedisch, Bulgarisch und Mazedonisch, Irisch und Schottisch-Gälisch sowie Tschechisch und Slowakisch. Er zieht dabei den geschichtsverkennenden, aber wohl gesinnungskonsequenten Vergleich, dass Mazedonier*innen bei der Anerkennung des Bulgarischen als Standardsprache für sich wohl weniger Zugeständnisse machen müssten als Bayer*innen und Hamburger*innen, die sich mit ihren Dialekten vom Standarddeutschen überdacht sehen.
Der Unterschied zwischen Sprache und Dialekt ist somit auch ein politischer, denn der Ausbau braucht Ressourcen, um die gerade Minderheitensprachen häufig kämpfen müssen. Der erste Schritt sei eine eigenständige Verschriftlichung, argumentiert Kloss – und die notwendige Konsequenz eine Nutzung dieser Schriftlichkeit auf allen Ebenen. Waren es früher Unterhaltungsliteratur und Lyrik, die das Prestige einer Sprache prägten, so sei es heute die Prosa des Alltags und der Wissenschaft. Man muss der Sprache auf Verkehrsschildern, im Supermarkt, aber auch an Universitäten begegnen. Der Ausbau des Lexikons, insbesondere für letzteren Zweck, könne dabei entweder durch Entlehnung, Wiederbelebung älterer Worte mit neuer Verwendung oder Neubildung erreicht werden.
Auch heute finden sich Beispiele für Kloss’ Idee: Man denke an etablierte Wortschöpfungen der deutschen Sprache wie Fernsehen (vs. Englisch television), Benutzeroberfläche (vs. user interface) oder Billigflieger (vs. low-cost carrier), die noch vor 100 Jahren niemandem etwas gesagt hätten. Im Chinesischen nennt man Smartphones 智能手机 (wörtlich „intelligentes Handgerät“), auf Isländisch snjallsími („Schlautelefon“), wobei das Wort sími („Telefon“) auf eine zuvor ausgestorbene Bezeichnung für Schnüre zurückgeht. Ob eine frischgebackene Ausbausprache letztendlich aber auch vollumfänglich genutzt wird, hängt, so Kloss, auch stark von sozialen Faktoren ab. Beispielsweise könne eine sehr starke Standardsprache eine Minderheitensprache auf demselben geografischen Gebiet trotz deren Abstand und Ausbau „klein halten“. Sprecher*innen beherrschen dann meist sowohl die große als auch die Minderheitensprache und belassen die Verwendung letzterer eher im privaten Bereich. Obwohl die Minderheitensprache es leisten könnte, erlangt sie deswegen nicht denselben Status eines vollwertigen Kommunikationsmittels für alle Lebensbereiche.
Besiegelt wird dieses Gefälle, wenn sich die Meinung durchsetzt, die Minderheitensprache sei ein Dialekt der großen Sprache. Dies attestiert Kloss beispielsweise dem
Mit Blick auf die damalige Zukunft bemerkt Kloss, dass in einer Zeit, „in der die Interdependenz und Interaktion zwischen allen Teilen der Welt rapide zunimmt, […] keine Sprache darauf hoffen [kann], in abgeschiedener, geschützter Isolation weiterzuleben“. Für ihn ergibt sich daraus ein Appell an alle Sprachgemeinschaften, trotz der Unsicherheit des Erfolgs zum Überleben ihrer Sprache durch deren Ausbau beizutragen. Bei der Linguistik verortet er den Auftrag, hierfür die Ressourcen und Techniken zur Verfügung zu stellen sowie die Entwicklungen zu beobachten. Das tut sie auch: Kloss’ Konzepte werden immer neu evaluiert
Kloss’ politische Einstellung wird auch in seinen Arbeiten aus den 1970er Jahren noch deutlich. Obwohl er allgemein für den Sprachausbau plädiert, spricht er die Fähigkeit dazu nicht allen Völkern zu. Auch seine Sicht auf koloniale Strukturen ist aus heutiger Sicht unhaltbar, stellt er doch die sozioökonomischen Vorteile eines Schulunterrichts in den Sprachen der Kolonialherren unkritisch in den Raum. Dies ändert jedoch nichts daran, dass seine Begriffe bis heute den Diskurs über die eingangs gestellte Frage prägen. Was unterscheidet also eine Sprache von einem Dialekt? Ihr Abstand, ihr Ausbau und die aktive Verwendung und Vertretung durch die Sprachgemeinschaft.