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Abstand und Ausbau: Was macht eine Sprache zu einer Sprache?

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Heinz Kloss1967
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Abstand und Ausbau: Was macht eine Sprache zu einer Sprache?

»‚Abstand languages‘ and ‚Ausbau languages‘«

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Geschrieben von Julian Andrej Rott

Bei te.ma veröffentlicht 01.12.2023

te.ma DOI 10.57964/tyjt-8071

Geschrieben von Julian Andrej Rott
Bei te.ma veröffentlicht 01.12.2023
te.ma DOI 10.57964/tyjt-8071

Wer definieren will, wann eine Sprache als eigenständig gilt, kommt an den Begriffen „Abstandsprache“, „Ausbausprache“ und „polyzentrische Sprache“ von Heinz Kloss nicht vorbei. Seine Konzepte, die er in diesem Artikel erstmals einem internationalen Publikum auf Englisch vorstellt, erfassen das Kontinuum verschiedener Konstellationen und Machtgefälle von Mehrsprachigkeit. Kloss selbst ist eine problematische Person, die die Linguistik bis heute prägt.

Was unterscheidet eine Sprache von einem Dialekt? Das wohl bekannteste Zitat dazu, „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine“, wurde in den 1940er Jahren von dem jüdischen Sprachwissenschaftler Max Weinreich populär gemacht. Weinreich forschte zeitlebens unter anderem maßgeblich zur dialektalen Struktur des Jiddischen – einer Sprache, die seit ihrer Entstehung um das 10. Jahrhundert stets in mehrsprachigen Kontexten existiert. Dass viele der noch heute etablierten linguistischen Konzepte rund um diese große Frage von Heinz Kloss stammen, seinerzeit NSDAP-Mitglied und Vertreter der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie, kann wahrscheinlich nur als bittere Ironie bezeichnet werden.

Kloss prägte in seinen Werken die Begriffe „Abstandsprache“, „Ausbausprache“, und „polyzentrische Sprache“, um verschiedene Konstellationen und Machtgefälle von Mehrsprachigkeit zu erfassen. Die Begriffe „Abstand“ und „Ausbau“ bilden dabei jeweils eine eigene Beschreibungsebene und finden als deutsche Lehnwörter (z.B. im Englischen: „Abstand languages“) auch in der internationalen Fachliteratur Verwendung. Sprachlicher Abstand bezeichnet in Kloss‘ Sinne die strukturellen Unterschiede zwischen Sprachen und Dialekten. Er definiert nicht näher, ob es dabei beispielsweise um Wortschatz, Lautinventar oder Grammatik geht. Seine Darstellung lässt auf eine wahrnehmbare Eigenständigkeit im Bezug auf benachbarte und verwandte Sprachen schließen. Abstand ist etwas Hör- und Messbares: Zwei Sprachen sind also je mehr Abstandsprachen, desto weniger sie gemeinsam haben und desto weniger sie entsprechend gegenseitig verständlich sind. 

Kloss’ Verständnis von Abstand ist dabei ein rein strukturelles, kein geographisches. Die verschiedenen Varietäten von Englisch, Spanisch oder Portugiesisch, die der Kolonialismus über die Jahrhunderte in die Welt trug (z.B. europäisches vs. südamerikanisches Portugiesisch und Spanisch), sind keine Abstandsprachen, denn sie ähneln einander trotz auseinanderstrebender Entwicklungen noch sehr stark. Sie sind das, was Kloss „polyzentrisch“1 nennt: Sprachen, die entweder in zwei oder mehr getrennten Gebieten gesprochen werden oder für die aus politischen Gründen unterschiedliche Normen zur künstlichen Ausdifferenzierung hergestellt wurden. Letzteres geschieht häufig zunächst über eine eigene Rechtschreibung (man denke an color, theater, organize im amerikanischen Englisch gegenüber colour, theatre, organise im britischen) oder verschiedene Schriftsysteme (wie im heutigen Bosnisch-Serbisch-Kroatischen, wo teils das kyrillische, teils das lateinische, oder auch beide Alphabete verwendet werden).

Der zweite Begriff, „Ausbau“, steht im Zentrum von Kloss’ Betrachtung. Hiermit beschreibt er einen Zustand erfolgreich durchgeführter und fortlaufend greifender Sprachplanungsarbeit seitens der Sprachgemeinschaft, die mit einem Grad der Standardisierung einhergeht – in heutigen Zeiten zumeist, wie bereits angemerkt, mit Verschriftlichung. Dies ist oft ein politisch gesteuerter und subventionierter Prozess. Der namensgebende Ausbau der Sprache fußt dabei auf der Vorstellung, dass die Sprecher*innen ihr primäres Ausdrucksmittel in jedem Lebensbereich verwenden können: Sei es die Diskussion von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, ein Schlaflied, eine politische Debatte oder ein neues Kochrezept.

Die meisten größeren Sprachen der Welt sind sowohl Abstand- als auch Ausbausprachen: Englisch, Chinesisch, Hindi, Spanisch, Französisch, Arabisch, um nur einen kleinen Auszug aus der Liste der meistgesprochenen Sprachen der Welt zu bemühen. Sie taugen für alles von flapsigen Alltagssprüchen mit Arbeitskolleg*innen über Gesetzestexte bis hin zur Diskussion von Quantenphysik. Auch Deutsch zählt dazu. Viele kleinere Sprachen aber ließen sich nach Kloss‘ Konzeptualisierung nur als Ausbausprachen, nicht jedoch als Abstandsprachen klassifizieren. Häufig gebe es besonders in benachbarten Gebieten ausgebaute Standardsprachen, die zwar für alle landläufigen Zwecke als separate Sprachen gehandhabt werden, einander strukturell aber extrem ähnlich seien: Entdeckten Linguist*innen solche Sprachen heute, würden sie diese vermutlich als eng verwandte Dialekte beschreiben. Kloss nennt als Beispiele europäische Sprachpaare wie Dänisch und Schwedisch, Bulgarisch und Mazedonisch, Irisch und Schottisch-Gälisch sowie Tschechisch und Slowakisch. Er zieht dabei den geschichtsverkennenden, aber wohl gesinnungskonsequenten Vergleich, dass Mazedonier*innen bei der Anerkennung des Bulgarischen als Standardsprache für sich wohl weniger Zugeständnisse machen müssten als Bayer*innen und Hamburger*innen, die sich mit ihren Dialekten vom Standarddeutschen überdacht sehen.

Der Unterschied zwischen Sprache und Dialekt ist somit auch ein politischer, denn der Ausbau braucht Ressourcen, um die gerade Minderheitensprachen häufig kämpfen müssen. Der erste Schritt sei eine eigenständige Verschriftlichung, argumentiert Kloss – und die notwendige Konsequenz eine Nutzung dieser Schriftlichkeit auf allen Ebenen. Waren es früher Unterhaltungsliteratur und Lyrik, die das Prestige einer Sprache prägten, so sei es heute die Prosa des Alltags und der Wissenschaft. Man muss der Sprache auf Verkehrsschildern, im Supermarkt, aber auch an Universitäten begegnen. Der Ausbau des Lexikons, insbesondere für letzteren Zweck, könne dabei entweder durch Entlehnung, Wiederbelebung älterer Worte mit neuer Verwendung oder Neubildung erreicht werden.

Auch heute finden sich Beispiele für Kloss’ Idee: Man denke an etablierte Wortschöpfungen der deutschen Sprache wie Fernsehen (vs. Englisch television), Benutzeroberfläche (vs. user interface) oder Billigflieger (vs. low-cost carrier), die noch vor 100 Jahren niemandem etwas gesagt hätten. Im Chinesischen nennt man Smartphones 智能手机 (wörtlich „intelligentes Handgerät“), auf Isländisch snjallsími („Schlautelefon“), wobei das Wort sími („Telefon“) auf eine zuvor ausgestorbene Bezeichnung für Schnüre zurückgeht. Ob eine frischgebackene Ausbausprache letztendlich aber auch vollumfänglich genutzt wird, hängt, so Kloss, auch stark von sozialen Faktoren ab. Beispielsweise könne eine sehr starke Standardsprache eine Minderheitensprache auf demselben geografischen Gebiet trotz deren Abstand und Ausbau „klein halten“. Sprecher*innen beherrschen dann meist sowohl die große als auch die Minderheitensprache und belassen die Verwendung letzterer eher im privaten Bereich. Obwohl die Minderheitensprache es leisten könnte, erlangt sie deswegen nicht denselben Status eines vollwertigen Kommunikationsmittels für alle Lebensbereiche. 

Besiegelt wird dieses Gefälle, wenn sich die Meinung durchsetzt, die Minderheitensprache sei ein Dialekt der großen Sprache. Dies attestiert Kloss beispielsweise dem Scots neben dem Englischen in Schottland, oder auch dem Plattdeutschen in Deutschland. Dass das Platt als Sprache der Hanse einst selbst eine machtvolle Position innehatte, deren Spuren sich bis heute wiederum im Wortschatz der skandinavischen Sprachen wiederfinden (vgl. Schwedisch beklaga „beklagen, bereuen“, använda „anwenden“, orsak „Ursache“), zeige, so Kloss, dass der Prozess des Ausbaus und der Mehrsprachigkeit ein dynamischer ist. Aus heutiger Sicht könnte man sagen, dass sich das Platt in einem erneuten Zustand des Ausbaus befindet, und seinen Dialekt-Stempel mindestens im eigenen Sprachgebiet wieder losgeworden ist. Wie die Juristin und Friedensaktivistin Nirmala Chandrahasan feststellt, kann ein solches Dialektnarrativ auch ein politisches Machtinstrument sein. Kloss nennt einige Beispiele, unter anderem das Verbot der öffentlichen und literarischen Verwendungen des Ukrainischen, das im Russischen Kaiserreich per Erlass durchgesetzt wurde. Die Sprache wurde dort als „kleinrussischer Dialekt“ bezeichnet.

Mit Blick auf die damalige Zukunft bemerkt Kloss, dass in einer  Zeit, „in der die Interdependenz und Interaktion zwischen allen Teilen der Welt rapide zunimmt, […] keine Sprache darauf hoffen [kann], in abgeschiedener, geschützter Isolation weiterzuleben“. Für ihn ergibt sich daraus ein Appell an alle Sprachgemeinschaften, trotz der Unsicherheit des Erfolgs zum Überleben ihrer Sprache durch deren Ausbau beizutragen. Bei der Linguistik verortet er den Auftrag, hierfür die Ressourcen und Techniken zur Verfügung zu stellen sowie die Entwicklungen zu beobachten. Das tut sie auch: Kloss’ Konzepte werden immer neu evaluiert2 und verwendet3.

Kloss’ politische Einstellung wird auch in seinen Arbeiten aus den 1970er Jahren noch deutlich. Obwohl er allgemein für den Sprachausbau plädiert, spricht er die Fähigkeit dazu nicht allen Völkern zu. Auch seine Sicht auf koloniale Strukturen ist aus heutiger Sicht unhaltbar, stellt er doch die sozioökonomischen Vorteile eines Schulunterrichts in den Sprachen der Kolonialherren unkritisch in den Raum. Dies ändert jedoch nichts daran, dass seine Begriffe bis heute den Diskurs über die eingangs gestellte Frage prägen. Was unterscheidet also eine Sprache von einem Dialekt? Ihr Abstand, ihr Ausbau und die aktive Verwendung und Vertretung durch die Sprachgemeinschaft.

Fußnoten
3

Bisweilen findet sich auch der synonyme Begriff „plurizentrisch“.

Joshua A. Fishman: Rethinking the Ausbau–Abstand dichotomy into a continuous and multivariate system. In: International Journal of the Sociology of Language. Band 2008, Nummer 191, 2008, S. 17-26. https://doi.org/10.1515/IJSL.2008.022

Snježana Kordić: Plurizentrische Sprachen, Ausbausprachen, Abstandsprachen und die Serbokroatistik. In: Zeitschrift für Balkanologie. Band 45, 2008, S. 210-215.

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Ein Begriff, der häufig benutzt wird, um ein sprachliches System zu bezeichnen, ohne einen der wertenden Begriffe „Dialekt“ oder „Sprache“ zu benutzen.

Jiddisch (Eigenbezeichnung יידיש jidisch oder אידיש idisch) ist eine westgermanische Sprache, die vor dem Zweiten Weltkrieg von aschkenasischen Juden in weiten Teilen Europas gesprochen wurde und bis heute von ihren Nachfahren verwendet wird. Sie entwickelte sich ab dem 9. Jahrhundert aus dem Mittelhochdeutschen und enthält durch ihre weite geografische Verbreitung und kulturelle Nutzung neben den deutschen Strukturen auch Elemente des Hebräischen und Aramäischen sowie slawische und romanische Einflüsse.

Scots ist eine kleine westgermanische Sprache, die in den schottischen Lowlands gesprochen wird. Sie wird teilweise als Dialekt des Englischen angesehen.

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