Wie Putin Opfer seines eigenen Geschichtsbilds wurde

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Jeffrey Mankoff2022
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Wie Putin Opfer seines eigenen Geschichtsbilds wurde

»Russia’s War in Ukraine: Identity, History, and Conflict«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 11.04.2023

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 11.04.2023

Die Entschlossenheit Russlands, den Kampf um die Ukraine trotz des enormen wirtschaftlichen Risikos und der Aussicht auf einen langen und blutigen Krieg mit ungewissem Ausgang fortzusetzen, deutet für den Sicherheitspolitik- und Russlandexperten Jeffrey Mankoff darauf hin, dass der Konflikt über die Frage der Nato-Osterweiterung hinausgeht. Vielmehr könne ein Blick auf die Geschichte der Idee eines ostslawischen Bündnisses helfen, die Ursprünge dieses Konflikts zu verstehen.

In seiner Rede an die Nation vom 21. Februar 2022, in der er die Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannte, begründete Putin seine Entscheidung zwar mit der Ausdehnung der Nato-Militärinfrastruktur bis an die russische Grenze, den größten Teil seiner Rede widmete er aber der ukrainisch-russischen Geschichte. Dabei behauptete er, die heutige Ukraine sei „voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen“ worden.1 

Für den US-amerikanischen Sicherheitspolitik- und Russlandexperten Jeffrey Mankoff ist die Tatsache, dass Putin und die russische politische Elite der Idee der ostslawischen (russisch-ukrainisch-belarussischen) Einheit eine derart große Bedeutung beimessen, ein wichtiges Element, um die Ursprünge des aktuellen Konflikts zu verstehen. Diese Haltung sei ein Indiz dafür, dass die Ambitionen Moskaus über die Verhinderung der ukrainischen Nato-Mitgliedschaft hinausgehen und ein umfassenderes Streben nach politischer, militärischer und wirtschaftlicher Vorherrschaft in der Ukraine beinhalten. Putins Entscheidung zur Durchführung einer groß angelegten Invasion anstelle eines begrenzten Einsatzes, wie in Georgien 2008 oder 2014/2015 im Donbass, interpretiert der Autor als ein Zeichen der Verzweiflung, weil andere Formen der Einflussnahme gescheitert sind. 

Offenbar rechnete Moskau damit, dass viele Ukrainer, zumindest im Osten des Landes, aufgrund kultureller, sprachlicher, religiöser Bindung an Russland eine Art Wiedereingliederung in eine russische Einflusssphäre akzeptieren würden.2 Diese Einschätzung der ukrainischen Identität habe sich als dramatisch falsch erwiesen. 

Mankoff weist darauf hin, dass Putin nicht erst seit 2022 behauptet, Russen und Ukrainer seien ein Volk und teilten ein gemeinsames politisches Schicksal.3 Zudem hat diese Sichtweise tiefe historische Wurzeln und wird von russischen Herrschern und Intellektuellen seit der Frühen Neuzeit4 vertreten. Publizisten wie der Kleriker Innozenz Giesel betonten die Existenz eines dreiteiligen gesamtrussischen Volkes, das sich aus Groß-, Klein- (Ukrainer) und Belarussen zusammensetzte. Ähnlich wie Putin heute hätten die Eliten im Russischen Reich geglaubt, dass externe Mächte den ukrainischen und belarussischen Nationalismus absichtlich als geopolitisches Instrument zur Schwächung Russlands förderten. Die heutige Behauptung der russischen Politik, der Wunsch der Ukraine, sich vom russischen Einfluss zu lösen, werde durch äußere Kräfte gefördert, sei also kein vorgeschobenes, sondern ein historisches Argument. 

Der Autor bezieht sich außerdem auf den ehemaligen russischen Außenminister Sergej Sasonow, der während der Pariser Friedenskonferenz 1919 bemerkt haben soll: „Die Ukraine gibt es nicht. Selbst das Wort ist künstlich (…). Es gibt ein Kleinrussland.“ Auch in der Perestroika-Ära Ende der 1980er zweifelte ein Großteil der russischen politischen und intellektuellen Elite an der Legitimität des ukrainischen Staates.5 

Dennoch erwähnt Mankoff auch eine Reihe von sicherheitspolitischen Ereignissen, die die Invasionsentscheidung begünstigt haben können: Im Jahr 2016 reagierte die Nato auf die Befürchtungen ihrer Mitglieder entlang der russischen Grenzen, indem sie ihre militärischen Kapazitäten in Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien verstärkte und an ihrer Zusage von 2008 festhielt, die Ukraine und Georgien aufzunehmen. 2019 kündigten die USA den INF-Vertrag, nachdem sie Russland der Nichteinhaltung beschuldigt hatten. Angesichts der sich verschlechternden Sicherheitssituation und unter der Annahme, dass der Westen zu gespalten war, um entschlossen zu reagieren, setzte Putin, so Mankoffs Erklärung, im Februar 2022 auf eine umfassende Invasion. Diese hatte jedoch als Hauptziel die Wiedereingliederung der Ukraine in die russische Einflusssphäre. 

Aus diesem Grund ist Mankoff im Gegensatz zum britischen Politikwissenschaftler Roy Allison der Meinung, eine ukrainische Neutralität nach finnischem Beispiel6 würde die Krise nicht lösen. Es sei denn, dieser Status käme einem russischen Protektorat gleich. Während der militärische Ausgang des Krieges laut Mankoff von der Reaktion des Westens und dem Kampfeswillen der Ukraine abhängen wird, ist so gut wie sicher, dass Russland mit seinem Versuch, die Ukraine dauerhaft zu kontrollieren, scheitern wird.

Fußnoten
6

Genauer gesagt vom bolschewistischen Russland nach 1917. S. die komplette Rede unter: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/.

Dabei zeigten Umfragen kurz vor dem Krieg, dass eine große Zahl der Menschen in der Ukraine bereit war, zu den Waffen zu greifen, um das eigene Land gegen eine russische Invasion zu verteidigen. In den Regionen Luhansk und Donezk wurde die Umfrage allerdings nur in dem von den ukrainischen Behörden kontrollierten Gebiet durchgeführt: https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1099&page=1.

Bei einem Treffen mit dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush im Jahr 2008 soll Putin geäußert haben, dass „die Ukraine nicht einmal ein Land ist“: https://www.washingtonpost.com/news/posteverything/wp/2018/07/19/ukraines-not-a-country-putin-told-bush-whatd-he-tell-trump-about-montenegro/.

Die Geschichte der Frühen Neuzeit deckt den Zeitraum von ca. 1500 bis 1800 ab. In der russischen Geschichte war das der Zeitraum, in dem das Großfürstentum Moskau (Moskowien) begann, die ostslawischen Länder und Völker unter seine Kontrolle zu bringen. Im Januar 1654 z.B. fand in der Stadt Perejaslaw eine Versammlung von ukrainischen Kosaken unter der Leitung von Bohdan Chmelnizki statt (Rat von Perejaslaw), auf der ein Bündnis zwischen den Kosaken und dem russischen Zaren Alexej I geschlossen wurde. In seiner Deutung ist dieses Ereignis allerdings bis heute umstritten: https://www.sueddeutsche.de/leben/hetmanat-kosaken-ukraine-dnjepr-1.5664689.

Beispielsweise befürwortete der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Schriftsteller und Philosoph Alexander Solschenizyn in seinem Buch „Russlands Weg aus der Krise“ die Bildung einer „Russischen Union“, die die Ukraine, Belarus, Russland und die ethnisch russischen Teile Kasachstans umfassen sollte. Solschenizyn zeigte sich von der grundlegenden Einheit der ukrainischen, belarussischen und russischen Völker überzeugt, die durch die mongolische Invasion und die polnische Kolonisation getrennt wurden. S. Alexander Solschenizyn: Russlands Weg aus der Krise. Ein Manifest. München, Zürich 1990. ISBN: 9783492114004.

Der russische Angriff auf die Ukraine bewirkte allerdings eine radikale Wende in der finnischen Sicherheitspolitik. Das Land hat seine neutrale Position aufgegeben und am 29. Juni 2022 zusammen mit Schweden die Aufnahme in die Nato beantragt. Finnland trat dem Bündnis schließlich am 4. April 2023 bei.

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