Lange Zeit wurden die Bedenken der Polen und Balten gegenüber Russland belächelt. Ja, man sehe zwar die jahrhundertelange Geschichte russischer Überfälle, hieß es aus westeuropäischen Ländern mit guten Kontakten nach Moskau.
Der Politikwissenschaftler Zsombor Zeöld zeichnet nach, wie die Regierungen Ostmitteleuropas bereits seit einigen Jahren versuchen, durch diplomatische, militärische und kulturelle Mittel neue Bündnisse und Koalitionen zu schmieden. Das Ergebnis seien verschiedene lose Formate, die es den Ländern erlaubten, auch jenseits der EU Außenpolitik zu betreiben und ihre Interessen zu verfolgen. Statt einer gemeinsamen, europaweit koordinierten
Zeöld weist damit auf eine wichtige Konfliktlinie innerhalb der EU hin, wobei Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten bei der Gestaltung einer gemeinsamen Außenpolitik keineswegs neu sind. Denn als sich die EU 2004
Das wohl bekannteste dieser Formate ist die sog. Visegrád-Kooperation (V4), eine Gruppe, die sich aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn zusammensetzt. Sie stehe laut Zeöld für eine mögliche Strategie, mit den zwei Hauptproblemen Ostmitteleuropas umzugehen: der politischen Fragmentierung und den enormen Unterschieden zwischen den Ländern der Region. V4 sei der Versuch, unter diesen Bedingungen einen Block zu formen, der gegenüber anderen EU-Ländern, aber auch außerhalb Europas, mit einer lauten Stimme auftreten könne. Manche sprechen vor dem Hintergrund der innenpolitischen Entwicklungen der Visegrád-Länder von einem „illiberalen Regionalismus“.
Bei den größeren EU-Mitgliedstaaten stoßen derlei Vorstoße zumeist auf Stirnrunzeln. Deutschland, das politisch bedeutendste und wirtschaftlich größte Land in der EU, blickt seit jeher kritisch auf die V4. Es sieht die Gruppe vor allem als Instrument der nationalistischen Regierungen in Warschau und Budapest, die EU zu schwächen – ein Eindruck, der durch die ablehnende Haltung gegenüber Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten 2015 verstärkt wurde.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und den Ländern Ostmitteleuropas bleibt unterdessen ambivalent: Einerseits wollen sich letztere aus dem politischen Schatten Deutschlands herausbewegen.
Laut Zeöld sind es sowohl Entwicklungen in der EU selbst als auch politische Ereignisse in den USA, aus denen die Bemühungen um mehr regionale Eigenständigkeit und neue geopolitische Koalitionen in Ostmitteleuropa hervorgehen. Zum einen hätten der Brexit 2016 und die zunehmenden geopolitischen Spannungen zwischen der EU und Russland spätestens seit 2008 das Gewicht der Ostmitteleuropäer innerhalb der EU erhöht. Ihre diplomatische Stimme sowie das Selbstvertrauen, eigene politische Anliegen offen zu vertreten, sei damit größer geworden. Zum anderen hätten die USA unter Donald Trump (2017-2021) eine prominentere Rolle ostmitteleuropäischer Länder befördert, insbesondere Polens. Während die USA unter Barack Obama (2009-2017) noch versucht hätten, das Management der Region an Deutschland auszulagern, habe sich dies mittlerweile geändert. Das große Interesse Polens an amerikanischem Flüssiggas komme dabei den USA entgegen und spiegele sich in exzellenten politischen und militärischen Beziehungen wider.
Auch andere regionale Initiativen werden von den USA unterstützt. Die Three Seas Initiative (3SI) etwa war ursprünglich eine von Polen und Kroatien angestoßene Gruppe, die sich gegen den Einfluss Russlands und Chinas in der Region wenden, Investitionen anziehen und Infrastrukturprojekte anstoßen sollte. Später wuchs das Format auf zwölf Länder an (die baltischen Staaten, die Visegrád-Länder, Österreich, Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Slowenien). Pikant war ein weiteres Ziel der Gruppe, so Zeöld: die Schaffung eines innereuropäischen Gegengewichts gegen die EU-Energiepolitik. Insbesondere der Fokus auf die Nord-Süd-Infrastruktur (im Gegensatz zu den in der EU stark ausgebauten West-Ost-Verbindungen) und die Betonung der Energiesicherheit (in Abgrenzung zur Abhängigkeit von Russland) waren hier Aspekte, die sich zum Teil gegen die Ideen in Brüssel und Berlin richteten. Noch habe Polen es jedoch nicht geschafft, das Format auf nachhaltige Beine zu stellen, die Interessen der Beteiligten lägen oft zu weit auseinander.
Generell sieht Zeöld Polen als neues „Gravitationszentrum“ der Region. Fast alle Konflikte mit und in der Region verliefen unter polnischer Beteiligung. Sei es der Wettbewerb innerhalb der Nato zwischen Polen und Rumänien bei der Frage, ob die Ostsee oder das Schwarze Meer die prioritäre Aufmerksamkeit des Militärbündnisses genießen sollte, oder die Streitigkeiten zwischen Polen und der Ukraine. Letztere betreffen vor allem ukrainische Getreideimporte in die EU sowie die Aufarbeitung der von ukrainischen Nationalisten begangenen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Polnische Politiker positionieren sich auf dem Parkett der europäischen Politik nicht zuletzt auch deswegen selbstbewusster, da das Land mittelfristig vom Nettoempfänger zum Nettozahler innerhalb der EU werden wird – laut der abgewählten PiS-Regierung bereits bis 2030. Ein potenzieller ukrainischer EU-Beitritt würde diesen Rollenwandel beschleunigen. Folgerichtig betonte auch der neu ins Amt gewählte Tusk bei seiner ersten Rede als designierter Regierungschef, Polen „zu einem Anführer innerhalb der EU“ machen zu wollen.
Die wahren politischen Kosten der EU-Osterweiterung werden also erst jetzt, unter dem Eindruck multipler Krisen, deutlich. Statt eines deutsch-französischen Motors, der das europäische Projekt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts getragen hat, haben sich mittlerweile drei europäische Pole herauskristallisiert: Zum einen Deutschland, das sowohl wirtschaftlich als auch politisch oft im Verbund mit nordeuropäischen Staaten agiert. Andererseits Frankreich, das seine eigenen Vorstellungen für eine europäische Souveränität hat und sich ein Verständnis der Anliegen der südeuropäischen Mitgliedstaaten bewahrt hat. Und schließlich der „neue Player“ Polen, der durch eigene außenpolitische und regionale Initiativen versucht, sich einen gleichwertigen Platz im sog. Weimarer Dreieck zu schaffen. Die zahlreichen Konflikte zwischen den drei europäischen Zentren zeigen, dass eine Wiederbelebung des europäischen Projektes unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts vor großen politischen Hürden steht.