Unser Sprachverstehen ist von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Davon leuchten uns einige aus der „Innensicht“ des Sprechens und Hörens direkt ein, obwohl man sie als Muttersprachler*in selten als explizite Regel beigebracht bekommt. Beispielsweise, dass man auf „die Pflanze“ später im Satz mit dem Pronomen „sie“, nicht jedoch mit „er“ oder „es“ verweisen kann – die sogenannte
Auf der höheren Ebene des mentalen Lexikons zeigen weitere Studien, dass völlig unterschiedliche Assoziationsmuster aktiviert werden, je nachdem, ob man ein Wort in seiner Geschlechtsmarkierung feminin („Ärztin“) oder maskulin („Arzt“) auftritt. Sie zeigen auch, dass die semantischen Bereiche beim generischen und beim spezifischen Maskulinum nahezu deckungsgleich sind.
Betrachtet man diese Untersuchungen zusammen, sticht heraus, dass ihre Ergebnisse zwar häufig vereinbar, aber dennoch nicht deckungsgleich sind. Jedes Experiment macht Aussagen über einen einzelnen sprachlichen Bereich: das Verknüpfen konsekutiver Sätze, das Aussprechen von Wörtern, das Assoziieren von Begriffen untereinander. Beim alltäglichen Sprachgebrauch erfüllen wir all diese Aufgaben und unzählige mehr gleichzeitig, mühelos. Aber beim Forschen ist es notwendig, sich auf ein Phänomen zu konzentrieren. Umso wertvoller sind Studien, die einen Brückenschlag zwischen den Ergebnissen anderer machen. Vier Jahre nach dem Papier von Gygax et al. fand sich das Forschungsteam erneut zusammen, diesmal unter Leitung von Teammitglied Alan Garnham, Professor für experimentelle Psychologie an der University of Sussex, um die Ergebnisse aus 2008 für das Deutsche, Französische und Englische um eine Ebene zu erweitern.
In der Ursprungsstudie von 2008 konnten sie zeigen, dass das Genus einer Personenbezeichnung im Deutschen und Französischen sogar starke gesellschaftliche Stereotype zu überschreiben vermag: Ein Wort wie „Kosmetiker“ bzw. „Esthéticiens“ lässt einen Fortsetzungssatz mit einer expliziten Nennung von Männern messbar besser klingen als einen mit Frauen. Im Englischen dagegen, wo eine Genusmarkierung solcher Nomen in den allermeisten Fällen ausbleibt („beauticians“), folgten die Messwerte den Stereotypen allein: Je mehr ein Begriff dem geläufigen Männerbild hinsichtlich der Tätigkeiten entsprach, desto sinnvoller erschienen den Teilnehmenden Satzfortsetzungen, in denen ebenfalls Männer genannt wurden. Das Gleiche galt bei stereotyp weiblichen Tätigkeiten und der nachfolgenden Nennung von Frauen. Hieran sieht man auch: Die Sprachverarbeitung nutzt alle ihr zur Verfügung stehenden Informationen, ist aber auf keine notwendigerweise angewiesen. In Sprachen ohne Genus werden mentale Repräsentationen dann vorwiegend auf nicht primär sprachlichen Informationen wie z.B. gesellschaftlichen Stereotypen aufgebaut.
Dazu gesellen sich die oben bereits erwähnten Ergebnisse aus der Studie von Schiller et al. zum Einfluss des Anlauts.
Am oben genannten Beispiel der Sprachen mit sich anpassendem Artikel sieht man, dass das Gehirn auch die Laute der Worte bei der Sprachverarbeitung und -produktion mit einbeziehen kann. Im Deutschen war davon zwar in dem Experiment von Schiller et al. nichts zu sehen. Aber nur, weil diese Schnittstelle beim Beispiel der Wortbenennung im Deutschen keinen Effekt zeigte, kann man nicht davon ausgehen, dass das grundsätzlich in dieser Sprache so ist. An anderer Stelle könnten Laute also sehr wohl auch im Deutschen einen Einfluss auf das Verständnis von Wörtern haben.
Vor diesem Hintergrund, sowie motiviert durch konträre Studienergebnisse
Im Englischen heißt die Form „they“. Sie steht lautlich mit keinem anderen Sprachelement in Verbindung und ist gleichzeitig genderfrei – sie dürfte, so die Hypothese, keinen Einfluss auf die Ergebnisse haben. Zur Erinnerung: Im Englischen waren nur die Stereotype ausschlaggebend.
Das Französische verfügt dagegen über zwei Formen: maskulin „ils“ und feminin „elles“, klare Mehrzahlformen der jeweiligen Singularpronomen „il“ bzw. „elle“. Ähnlich zu den Nomen verwendet man „elles“ nur spezifisch für reine Frauengruppen, „ils“ traditionell dagegen für ganz verschiedene Gruppen: zum einen für reine Männergruppen, zum anderen für gemischtgeschlechtliche Gruppen mit mindestens einem männlichen Mitglied, sowie außerdem für Gruppen unbekannten Geschlechts. Das generische Maskulinum setzt sich auch bei den Pronomen fort. Die maskuline Überrepräsentation aus der Ursprungsstudie sollte also durch das zusätzliche Pronomen „ils“ aufrechterhalten bleiben, die Ergebnisse im Vergleich zur Struktur ohne Pronomen sich ebenfalls nicht verändern.
Das Deutsche hat hier nur eine einzige Form – „sie“. Aber diese steht, anders als im Englischen, nicht für sich. Sie lautet gleich mit dem femininen Singular „sie“. Garnham et al. wollten herausfinden, ob ein Zwischenschalten einer lautlich möglicherweise feminin konnotierten Form den maskulinen Bias schwächen kann. Das Argument, das Deutsche sei im Plural eine feminine Sprache, haben schon Gegner der gendergerechten Sprache aufgeworfen.
Hierzu nutzte Garnhams Team das Experimentdesign von Gygax et al. aus dem Jahr 2008, bei dem Versuchsteilnehmenden zwei aufeinanderfolgende Sätze präsentiert wurden. Sie verwendeten dasselbe, dreisprachig parallele Material, mit einer minimalen Änderung, einer eingefügten Passage mit einem Pronomen, das sich so zwischen die Personenbezeichnung und ihre Auflösung schob:
Die Nachbarn kamen aus der Cafeteria heraus. Sie gingen weg.
2 Wegen des bewölkten Wetters hatte eine[r] der Frauen [Männer] einen Regenschirm.
Les voisins sortirent de la cafétéria. Ils partirent.
A cause du temps nuageux un[e] des femmes [hommes] avait un parapluie.
The neighbors came out of the cafeteria. They went away.
Because of the cloudy weather, one of the women [men] had an umbrella.
An die erste Stelle im Satz wurde entweder eine stereotyp männliche Bezeichnung (z.B. „Ingenieure“/„Ingénieurs“/„Engineers“), eine stereotyp weibliche Bezeichnung (z.B. „Kosmetiker“/„Esthéticiens“/„Beauticians“) oder ein neutraler Begriff (z.B. „Schwimmer“/„Nageurs“/„Swimmers“) eingesetzt. Wie in der Ursprungsstudie sollten die Teilnehmer*innen beurteilen, ob der zweite Satz eine gute Fortsetzung des ersten sei. Dabei wurde die Reaktion erhoben („Ist dieser Satz eine mögliche Fortsetzung?“ – ja vs. nein) sowie die Zeit, die die Proband*innen für eine positive Entscheidung brauchten. Ähnlich zu der 2008er Studie nahmen je Sprache 36 (Deutsch, Englisch) bzw. 34 (Französisch) Muttersprachler*innen teil, rekrutiert an den Universitäten in Bern (Deutsch), Fribourg (Französisch) und Sussex (Englisch). Die Forscher*innen verzichteten dabei darauf, ihre Stichprobe geschlechtsausgewogen zu gestalten (unter den insgesamt 106 Teilnehmer*innen waren nur 7 Männer). Sie begründen dies neben der einfacheren Logistik durch die Zusammensetzung der Studierendenschaft auch damit, dass in derlei Studien für gewöhnlich keine Geschlechtsunterschiede auffindbar seien, ohne dabei allerdings konkret Bezug auf die Arbeiten anderer zu nehmen. Der Verweis zur eigenen 2008er Ursprungsstudie – in der das Geschlechterverhältnis nicht expliziert wird – bleibt der einzige Literaturverweis in diese Richtung
In ihnen zeichnet sich dann auch ein klares Bild ab. Gemäß den Erwartungen konnten im englischen Sample die Ergebnisse aus der 2008er Studie repliziert werden: Die Stereotype über die geschlechtliche Verteilung sagten voraus, welche der Satzfortsetzungen positiv bewertet wurden. Bei männlichen Stereotypen waren es Fortsetzungen, die zu den Männern hin spezifiziert wurden, bei weiblichen zu Frauen, bei neutralen gab es keinen messbaren Unterschied. Ähnlich verhielt es sich in den Entscheidungszeiten: Länger nachgedacht wurde immer dann, wenn die Nennung des Geschlechts im Folgesatz nicht mit den Stereotypen einherging.
Ähnlich gelagert war die Auswertung der französischen Daten. In der Studie von 2008 wurden Satzfortsetzungen mit Männern unabhängig von den Stereotypen der Personenbezeichnungen signifikant häufiger als gut bewertet. So war es dieses Mal wieder, und zwar in derselben Größenordnung. Offenbar verstärkt das Vorhandensein eines weiteren, eindeutig maskulinen Pronomens die maskuline Voreingenommenheit nicht zusätzlich. Auch hier änderte sich am Zeitverlauf der Bewertungen nichts im Vergleich zur ersten Studie: Sätze, die Männer enthielten, wurden signifikant schneller als gut bewertet als Sätze mit Frauen.
Im Deutschen schließlich – der Sprache mit dem besonders interessanten Konflikt zwischen „lautlich femininem“ Pronomen und generischem Maskulinum – blieb im Grunde ebenfalls alles wie gehabt. Zwar wurde in der statistischen Analyse deutlich, dass es durchaus einen abschwächenden Effekt gab, sodass das Vorhandensein des Pronomens die Bewertung von Fortsetzungen mit Frauen positiv beeinflusste. Insgesamt blieben es aber weiterhin die Sätze mit Männern, die am häufigsten als passend empfunden wurden, unabhängig vom Stereotyp der Personenbezeichnung. Anhand der Reaktionszeiten konnte man sehen, dass eine positive Bewertung von Sätzen mit Frauen dieses Mal aber deutlich einfacher fiel. Während sich die Differenz zwischen positiv beurteilten männlichen und weiblichen Sätzen auf beinahe eine halbe Sekunde belief, brauchten die Proband*innen in diesem Experiment nur 120 Millisekunden länger.
Die Daten aus der Studie geben abermals empirische Hinweise darauf, dass die Verwendung einer generisch maskulinen Form Männern einen kleinen, aber signifikanten kognitiven Vorteil verschafft. Das Französische zeigt uns, dass sein Vorhandensein durch noch mehr maskulines Material nicht noch verstärkt wird – was darauf hindeutet, dass der sprachliche Bias schon jetzt voll ausgeschöpft ist. Feminin klingende Formen können ihn zwar mildern, aber nicht aushebeln. Eine weitere Einschränkung ist, dass diese Wirkung nicht in allen grammatischen Konstellationen greifen kann: „Sie“ im Singular wird im Dativ zu „ihr“. Im Plural dagegen zu „ihnen“. Wir haben kein generisches Femininum im Deutschen, aber die Laute unserer Worte können dazu beitragen, alle mitzudenken.