Wer sich online zu einem kontroversen Thema äußert, der trägt damit nicht nur zu einem Diskurs bei, sondern positioniert sich auch selbst als Individuum gegenüber Mitdiskutierenden und gesellschaftlichen Gruppen. Die Sprachwissenschaft wird beim Thema gendergerechte Sprache besonders häufig als Argumentquelle herangezogen, und das sowohl von Berufslinguist*innen als auch von Privatpersonen. Doch der Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse bedingt nicht notwendigerweise einen objektiven Austausch. Alker-Windbichler arbeitet in ihrem Beitrag heraus, aus welchen Motiven sprachwissenschaftliche Argumente in einer typischen Online-Diskussion eingebracht werden und welche Funktionen sie dabei für die Untermauerung der jeweiligen Argumente erfüllen. Hierzu untersucht sie exemplarisch zwei Foren auf standard.at, einem der aktivsten Online-Plattformen zum Thema gendergerechter Sprache im deutschsprachigen Raum.
Am stärksten sticht eine Schere zwischen einerseits der großen Wertschätzung und andererseits der geringen Kenntnis der Linguistik seitens der Beiträger*innen heraus. Zwar schreiben sie der Disziplin zu, die einzig wahre Instanz in Sprachfragen zu sein, häufig in Abgrenzung zur Soziologie, den Genderstudies und den Literaturwissenschaften. Die Vertreter der Pro- wie Kontrapositionen berufen sich dabei häufig auf ein vages, autoritäres Konzept der Sprachwissenschaft und profilieren sich bisweilen über die nicht immer adäquate Verwendung von Fachtermini, wie Alker-Windbichler zeigt. Darüber hinaus scheitern Referenzen auf spezifische Studienergebnisse meist an Paywalls, sodass eher auf Journalismus und soziale Medien Bezug genommen wird. Auf diese Weise bleibt es möglich, die Sprachwissenschaft vorwiegend als Instrument zur Stärkung der eigenen Position zu verwenden, ohne wirklich konkret zu werden. Dissonanzen im Dialog bleiben entsprechend oft unaufgelöst. Gibt es doch einmal verfügbare linguistische Forschungsergebnisse, so Alker-Windbichler, werden sie kritisch diskutiert – wenn auch ungern mit den Forschenden selbst.
Schaltet sich nämlich eine ausgewiesene Fachperson in die Forendiskussion ein, versiegt der Diskussionsstrang häufig schnell. Alker-Windbichler erklärt diese Gesprächsdynamik damit, dass inhaltliche Expertise durch Fachwissenschaftler*innen in der Forendiskussion vielleicht nicht gewünscht sein könnte: Die universitäre Anbindung laufe nämlich dem vermeintlich egalitären Anspruch eines Online-Forums zuwider und auch der Vorwurf der reinen Forschung aus dem Elfenbeinturm lässt sich so nicht ganz unwidersprochen erheben. Ein Kernmotiv für die dennoch immer wiederkehrende sprachwissenschaftliche Bezugnahme ist wohl, dass sie beiden Lagern erlaubt, ihre Integrität aufrechtzuerhalten: Auf der Pro-Gendern-Seite sieht man sich etwa durch Studienergebnisse bestätigt, die das generische Maskulinum vorwiegend für Männer angewendet sieht. Auf der Kontra-Seite beruft man sich wiederum exemplarisch auf eine Bewertung der Grammatik, gegenderte Formen seien nicht konform mit den Regeln der Sprache: Wer demgemäß gegenderte Formen ablehnt, agiert vermeintlich gut informiert.
Letztlich kann diese kleine innovative Studie von Alker-Windbichler die wechselnde Inanspruchnahme der Sprachwissenschaften für die Argumentation der jeweiligen Lager natürlich nicht auflösen. Doch trotz der vergleichsweise geringen Datengrundlage von 2.157 Kommentaren vermag Alker-Windbichler Muster aufzeigen, derer sich jeweils wechselseitig bedient wird. Zwar stammen die Einträge vom März 2019, die Dynamik des Misserfolgs in der Kommunikation lässt sich aber ohne Weiteres auf heute übertragen. Der Bedarf an linguistischer Forschung ist groß, aber wie können wir aus ihren Ergebnissen lernen?