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Deborah Arbes stellt vor:

Zeugen gesucht! Zur Geschichte des generischen Maskulinums im Deutschen

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Zeugen gesucht! Zur Geschichte des generischen Maskulinums im Deutschen

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Geschrieben von Deborah Arbes

Bei te.ma veröffentlicht 13.04.2023

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/n1cn-xf55

Geschrieben von Deborah Arbes
Bei te.ma veröffentlicht 13.04.2023
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/n1cn-xf55

Die Verwendung des generischen Maskulinums kann kritisiert werden, aber dass maskuline Formen eine generische Lesart innehaben, ist nicht von der Hand zu weisen. Diese belegen Trutkowski und Weiß in ihrem neu erschienenen Artikel anhand zweier Studien: einer synchronen und einer historischen. 

Wird das generische Maskulinum nur verwendet, weil es auf Berufsbezeichnungen zurückzuführen ist, deren Ausübung früher Männern vorbehalten war? Sprachliche und gesellschaftliche Konventionen sind in dieser Frage schwer zu trennen. Ewa Trutkowski und Helmut Weiß1 haben sich der Aufgabe dennoch gestellt und gehen der Geschichte des generischen Maskulinums auf den Grund. Sie finden sowohl in früheren Epochen als auch in der Gegenwart Beweise für generische Lesarten maskuliner Formen jenseits von Berufen. Damit wollen sie das Missverständnis beseitigen, das generische Maskulinum sei erst entstanden, als Frauen in Männerberufen präsent waren. 

In seiner historischen Studie findet Weiß Belege für eine geschlechterübergreifende Verwendung von Nomen wie „Gast“2, „Nachbar“, „Freund“ und „Sünder“ im Alt- und Mittelhochdeutschen. Auf die Untersuchung von Berufsbezeichnungen wurde bewusst verzichtet, da in dieser Domäne Männer und Frauen nicht gleichermaßen vertreten waren. Beispiele wie „die von alters her Bürger in Straßburg gewesen sind, es seien Frauen oder Männer“ und „von da fliehet auch ihr alle zu ihr, beide Weib und Mann, denn nun ist sie die eine, die nach dem allmächtigen Gott Trost und Zuflucht für alle Sünder ist“ belegen eine generische Lesart maskuliner Nomen, indem im gleichen Satz zwei Geschlechter genannt werden. Es gibt sogar Beispiele, in denen sich die männliche Form nur auf eine Frau bezieht: „Ihr bedürft eines Weibes zum Freunde nicht“, „dass die fremde Magd Richter über die Schönheit wäre“ und „sie ist ein rechter Lügner“. Da die Endung -in zu dieser Zeit bereits belegt ist, z.B. in den Wörtern „Sünderin“ und „Königin“, handelt es sich um eine tatsächlich generische Form des Maskulinums – und nicht einfach um Beispiele, die einer grundsätzlich anderen Grammatik folgen. Die Studie würde noch überzeugender wirken, wenn diese eindeutigen Belege nicht zwischen einer Vielzahl von Beispielen stünden, deren mögliche generische Lesart lediglich auf einer Interpretation beruht. Aus dem Satz „dass sie den Freunden und Nachbarn Würste schicken“ etwa geht streng genommen nicht hervor, dass Frauen und Männer gemeint sind. Deshalb werden „historisches Wissen oder generelle Plausibilitätskriterien“ herangezogen, um auf die generische Lesart zu schließen, argumentiert Weiß. 

In der synchronen Studie stellt Trutkowski zunächst die komplexe Beziehung zwischen Genus und Sexus vor. Im Deutschen haben alle Nomen ein grammatisches Genus: Maskulinum, Femininum oder Neutrum. Sexus (mit den Möglichkeiten männlich oder weiblich) ist jedoch eine weniger offensichtliche Kategorie, die sich oftmals erst durch das grammatische Genus zeigt, oder auch gar nicht (z.B. haben unbelebte Nomen kein Sexus und auch bei belebten ist dies mitunter optional, z.B bei dem Wort „Mensch“). Wir halten fest: Manche belebte Nomen tragen zum obligatorischen Genus zusätzlich das Merkmal Sexus (männlich oder weiblich) in sich, dieses geht aber aus der Sprache nicht immer hervor, sondern ist in der Bedeutung des Wortes verankert. Genus und Sexus können demnach nicht gleichgesetzt werden, es besteht jedoch ein Zusammenhang.

Um die verdeckte Kategorie Sexus greifbarer zu machen, unterteilt die Autorin Nomen diesbezüglich in mehrere Kategorien. Die erste Unterscheidung besteht zwischen sexusspezifizierten und nicht-sexusspezifizierten Nomen. Letztere sind immer unbelebt, wie z.B. „der Löffel“, „die Gabel“ etc. und spielen im weiteren Verlauf des Artikels keine Rolle. Es wird im Folgenden also nur um Nomen gehen, die lebendige Wesen bezeichnen. Die Spezifizierung kann (wie in Tabelle 1 dargestellt3) lexikalisch, morphologisch  – also über eine Endung – oder über Artikel geschehen. Im Gegensatz zu den letzteren beiden Optionen gehört das Merkmal Sexus in den lexikalisch spezifizierten Nomen schon zur Bedeutung der Grundform:

Tabelle 1: Sexusspezifizierte Nomen – lexikalisch-morphologische Differenzierung

Eine weitere Unterscheidung zwischen Nomen, die das Merkmal Sexus aufweisen, wird zwischen sexusspezifizierten und sexusunterspezifizierten Nomen vorgenommen. Aus Tabelle 2 geht hervor, dass beide Arten von Nomen jegliches Genus annehmen können. Außerdem, so Trutkowski, „zeigen die Beispiele in Tabelle 2, dass weder von Genus auf Sexus, noch von Sexus auf Genus geschlossen werden kann“. 

Tabelle 2: Sexusspezifizierte und sexusunterspezifizierte Nomen – lexikalisch-semantische Differenzerung

Das ist zwar auf rein grammatischer Ebene richtig, jedoch sind vor allem „Blaustrumpf“4 und „Tunte“ auf Geschlechterrollen bezogene und eher wertende Nomen. Damaris Nübling interpretiert solche Formen, in denen Genus und Sexus nicht übereinstimmen als Bestätigung des „engen Nexus zwischen Genus und Geschlecht: Genus-Sexus-Diskordanzen stellen Menschen aus, die sich nicht geschlechtsrollenkonform verhalten.“5 

Ob und wie sich die Kategorie Sexus als Genus im Sprachgebrauch offenbart, dafür gibt es im Deutschen genaue Regeln. Im Folgenden sind Formulierungen, die von den Autoren oder Befragten als „falsch“ bewertet werden, durch einen Asterisk markiert: 

  • die Linguistin
    Nicht: *der/*das Linguistin

Hier muss die Endung -in durch den femininen Artikel als Genusmerkmal realisiert werden. In anderen Fällen ist eine Sexuskongruenz optional6:   

  • Das Mädchenneut hat seinenneut/ihrenfem Opa besucht

Beide Varianten werden als richtig verstanden, obwohl es im Falle der Option mit dem femininen Pronomen einen Konflikt zwischen dem grammatischen Geschlecht (Genus: Neutrum) und dem natürlichen Geschlecht (Sexus: weiblich) gibt.

Es gibt jedoch auch Fälle, in denen Sexus nicht als Genus realisiert werden darf, z.B. in Relativsätzen: 

  • Das Mädchenneut, das Oboe spielt, hat Talent.
    Nicht: *Das Mädchen, die Oboe spielt, hat Talent.

Um herauszufinden, welche Nomen tatsächlich eine generische Lesart haben, ließ Trutkowski7 eine Reihe von Sätzen von Menschen mit Deutsch als Muttersprache bewerten. Diese Akzeptabilitätsratings verraten den Forschenden, welche Sätze als richtig oder falsch gelten und wie die Nuancen dazwischen aussehen. 

Frage an die Leser*innen: Wie würden Sie die folgenden Sätze bewerten? 

a) Hans ist Pilot. Maria auch. 

b) Hans ist Pilot. Werner auch.

c) Hans ist ein netter Mensch. Maria auch. 

d) Hans ist ein netter Mensch. Werner auch.

Alle vier Sätze gelten laut Trutkowski als akzeptabel, jedoch wurde der Satz in a) schlechter bewertet als der in b). Die Sätze in c) und d) wurden gleich gut bewertet. Warum ist das so? Sowohl in a) als auch in c) bezieht sich ein femininer Name („Maria“) auf ein maskulines Nomen („der Mensch“, „der Pilot“). Dies nennt die Autorin „Genus-Mismatch“ (weil das Genus im Subjekt ein anderes ist als im Prädikativ). Der Unterschied liegt darin, dass in a) ein zusätzliches Sexus-Mismatch vorliegt, welches die Akzeptabilität mindert. Das Nomen „Pilot“ hat demnach sowohl eine männliche als auch eine generische Lesart, was zu Mehrdeutigkeiten führen kann. 

Wie verhält es sich mit dem weiblichen Pendant, der „Pilotin“?

e)  *Maria ist Pilotin. Hans auch.

Der Asterisk verrät: Die Kombination in e) wurde als unzulässig gewertet. „Pilotin“ ist sexusspezifiziert weiblich. Diese Eigenschaft lässt in diesem Kontext keine generische Lesart zu. Hieraus schließt Trutkowski, dass es im Bezug auf menschliche Nomen ein generisches Maskulinum, aber kein generisches Femininum gibt. Zwar führen Genus- und Sexus-Mismatches dazu, dass Sätze weniger gut bewertet werden, unterm Strich gelten Sätze wie in a) unter den Befragten aber trotzdem als akzeptabel.   

Trutkowskis Experiment zeigt außerdem, dass generische Lesarten auch in femininen Nomen mit spezifiziertem weiblichen Sexus auftreten können. Diese sind jedoch vorrangig im Tierreich zu finden, wenn das feminine Nomen als Oberbegriff eine Gattung beschreibt.  Der Satz in f) gilt laut Akzeptabilitätsrating als zulässig, der Satz in g) nicht: 

f) Lily ist eine Katze. Leo auch. 

g) *Leo ist ein Kater. Lily auch.

An diesen und zahlreichen weiteren Beispielen zeigt Trutkowski, wie fest die generische Lesart sexusspezifizierter maskuliner Formen in der deutschen Sprache verankert ist. Als generisch gelten dabei solche Nomen, die sexusspezifiziert sind, aber in ihrer Grundform mehrdeutig sind „zwischen einer spezifischen (männlichen oder weiblichen) und einer geschlechtsabstrahierenden Interpretation“ (z.B. „Pilot“ oder „Katze“). 

Durch die empirische Methode der Akzeptabilitätsratings wirken die Ergebnisse der Studie (der unten verlinkte Preprint ist frei im Netz zugänglich) glaubhaft und nachvollziehbar. Sie machen in der Diskussion um gendergerechte Sprache deutlich, was „generisch“ eigentlich bedeutet und wie vielschichtig die Kategorien Genus und Sexus sind. 

Was heißt das nun für die Diskussion um gendergerechte Sprache? Trutkowski und Weiß sehen ihren Befund als Argument dafür, dass das generische Maskulinum seine Funktion des geschlechtsneutralen Sprechens erfüllt und keine Sternchenformen oder Beidnennungen nötig sind. Gerade von Gegnern des Genderns wird der Artikel häufig angeführt, um zu belegen, wie tief das generische Maskulinum in Grammatik und Sprachgebrauch verwurzelt ist. Aber entkräftet das tatsächlich die Ergebnisse der psycholinguistischen Untersuchungen – und lassen sich Konventionen und Strukturen nicht doch verändern, einen entsprechenden Willen dazu vorausgesetzt? Auf diese Fragen kann keine einzelne Untersuchung eine Antwort geben, sie müssen den Aushandlungsprozessen in der Sprachgemeinschaft anheimgestellt werden.

Fußnoten
7

Die synchrone Studie stammt von Ewa Trutkowski, die historische Studie von Helmut Weiß.

Auf den Einwand, es gäbe keine movierte Form „Gästin“, erwidert Weiß: „Auch wenn heute die entsprechende feminine Form nicht mehr allgemein gebräuchlich ist, hat es eine solche Form früher gegeben. Sie ist bereits im AHD [Althochdeutschen] belegt, wenn auch selten, kommt aber laut dem Grimmschen Wörterbuch (s.v. Gästin) im MHD [Mittelhochdeutschen] ‚ziemlich oft‘ vor.“  

Die Inhalte der Tabellen 1 und 2 wurden in weiten Teilen dem besprochenen Text von Trutkowski entnommen, jedoch für die vorliegende Introduction leicht abgeändert.

 Mit dem veralteten Begriff „Blaustrumpf“ wurden laut Duden intellektuelle Frauen bezeichnet, „die zugunsten der geistigen Arbeit die vermeintlich typisch weiblichen Eigenschaften verdrängt“ haben.

Damaris Nübling: Geschlechter(un)ordnungen in der Grammatik: Deklination, Genus, Binomiale. In: Ludwig Eichinger und Albrecht Plewnia: Neues vom heutigen Deutsch: Empirisch – methodisch – theoretisch. Berlin, Boston: De Gruyter, 2019, S. 19-58.

 Siehe auch: J. Hübner: Genus und Sexus im Konflikt: Kongruenzformen hybrider Nomina im Sprachproduktionsprozess. In: Linguistik Online, 107(2), 2021, S. 9-19. 

 Siehe auch: Ewa Trutkowski: Wie generisch ist das generische Maskulinum? Über Genus und Sexus im Deutschen. In: ZAS Papers in Linguistics. 59, 2018, S. 83-96.

Re-Paper

Eingeschränkter Zugang
Eingeschränkter Zugang bedeutet, dass das Material nicht ohne weiteres öffentlich zugänglich ist.
Verwandte Artikel

Als generisches Maskulinum wird der Usus bezeichnet, grammatisch maskulin markierte Formen als Oberbegriff für Menschen unabhängig ihres Geschlechts zu verwenden.

Das Genus oder deutsch das grammatische Geschlecht ist eine besonders auffällige Kategorie des deutschen Sprachsystems, da es die Substantive betrifft und Substantive diejenigen Wörter sind, mit denen wir die Dinge beim Namen nennen. Die Genera des Deutschen sind das Femininum, Maskulinum und Neutrum.

Kongruenz (von lat. congruentia „Übereinstimmung“) bezeichnet die Übereinstimmung zusammengehöriger Satzteile in grammatischen Merkmalen. Im Deutschen umfasst die Kongruenz die Kategorien Kasus (Fall), Numerus (Zahl) und Genus (sprachl. Geschlecht).

In einer synchronen linguistischen Studie wird Sprache, die in einem begrenzten Zeitabschnitt genutzt wird, erforscht. Dies kann z.B. die Gegenwartssprache sein.

Die semantische Kategorie Sexus weist auf ein biologisches Geschlecht hin. Die Einteilung ist meist binär mit den Möglichkeiten [+männlich] und [+weiblich], oft auch zusammengefasst zu z.B. [±weiblich].

Lexik ist die Untersuchung von isolierten Wörtern ohne Berücksichtigung des Textzusammenhangs.

In der Morphologie als sprachwissenschaftliches Feld wird die Struktur und der Aufbau von Wörtern untersucht.

Ein Prädikativum (oder Prädikativ) ist in der Grammatik ein Satzteil, der eine Eigenschaft angibt und diese auf das Subjekt oder das Objekt des Satzes bezieht. In den Beispielen „Sie ist Lehrerin“ und „Sie ist nett“, sind die Wörter „Lehrerin“ und „nett“ jeweils die Prädikative.

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