Macht digitale Kommunikation Kriege wahrscheinlicher?

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Nathan Gardels2022
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Macht digitale Kommunikation Kriege wahrscheinlicher?

»War Is The Child Of Siloed Rivals«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 22.03.2023

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 22.03.2023

Für den Chefredakteur des Magazins Noema, Nathan Gardels, besteht ein Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie heute digital kommuniziert wird, und der neuen Kriegsgefahr zwischen den Großmächten. Was als Zeitalter der Information galt, sei zu einem Zeitalter der Nicht-Kommunikation geworden. Geschlossene digitale Echokammern in China, Russland und den USA verstärkten Fehlwahrnehmungen und machten kriegerische Auseinandersetzungen wahrscheinlicher.

Der Aufstieg des Populismus in westlichen Demokratien und die Entstehung eines autokratischen Nationalismus in Russland und China, so Gardels, hätten eines gemeinsam: Sie würden angetrieben vom „tribalistischen Charakter digitaler Konnektivität“.1 Statt eines Internets sei ein „Splinternet“ (deutsch: „Splitternetz“) entstanden. In diesem stünden sich digitale Plattformen gegenüber, auf denen feststehende Meinungen permanent reproduziert und nicht hinterfragt würden. Eine ökonomische De-Globalisierung, oft auch als Decoupling bezeichnet, befeuere zudem die materielle Entflechtung zwischen den Großmächten.2 Diese Entwicklung betreffe nicht nur die breite Gesellschaft. Durch zwei Jahre Covid-bedingter Reiseeinschränkungen hätten sich auch die persönlichen Interaktionen von Entscheidungseliten minimiert. Dies leiste zusätzlich Fehlwahrnehmungen Vorschub. 

Das Ergebnis sei ein Niedergang diplomatisch wertvoller „strategischer Empathie“, die der Historiker Zachary Shore als die Fähigkeit definiert, „zu verstehen, was den Gegner antreibt und einschränkt“.3 Stattdessen gewinne etwas an Bedeutung, was Hans Morgenthau, einer der Gründerväter der realistischen Denkschule in den Internationalen Beziehungen (IB), als „strategischen Narzissmus" bezeichnet hat.4 Hierbei handelt es sich um die Eigenschaft, internationale Politik lediglich als vom eigenen Handeln bedingt zu verstehen und zudem davon auszugehen, dass andere das genauso sehen.

Mit Blick auf die aktuelle Weltlage und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt Gardels eine gewagte These auf: Könnte es sein, dass Xi Jinping am Vorabend des Krieges nur deshalb eine „Partnerschaft ohne Grenzen“ mit Russland verkündete, weil er tatsächlich an den unaufhaltsamen Niedergang des Westens glaubte und dessen Ausmaß überschätzte? Wie in den russischen wurden auch in den digital aufgeblasenen chinesischen Echokammern Ereignisse im Westen – etwa der Sturm auf das Washingtoner Kapitol, der chaotische Abzug aus Afghanistan oder auch die gesellschaftlich kontrovers diskutierte Identitätspolitik – zu einer einzigen Wahrheit stilisiert, die selbst die Entscheidungseliten in Moskau und Peking mit der objektiven Realität verwechselten.

Auch wenn es sich bei Gardels Text nur um einen spekulativen Kommentar handelt, spricht er doch eine wichtige Dimension der aktuellen, hoch konfrontativen internationalen Weltpolitik an: Die Digitalisierung verändert die Wahrnehmung, den Erregungsgrad und die Geschwindigkeit von Politik. Es wäre überraschend, wenn die Kriegspolitik von dieser Entwicklung unberührt bliebe.

Fußnoten
4

Amy Chua: Tribal World. Group Identity Is All. In: Foreign Affairs Magazine. 14.06.2018 https://www.foreignaffairs.com/articles/world/2018-06-14/tribal-world.

Für eine kritische Perspektive siehe T. V. Paul: The Specter of Deglobalization. In: Current History. Band 122, Nr. 840, 2023, S. 3–8. https://doi.org/10.1525/curh.2023.122.840.3.

Zachary Shore: A Sense of the Enemy. The High Stakes History of Reading Your Rival's Mind. Oxford University Press, Oxford 2014, ISBN 9780199987382.

Hans Morgenthau und Ethel Person: The Roots of Narcissism. In: The Partisan Review. Band 45, Nr. 3 1978, S. 337–347.

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Als Realismus bezeichnet man eine Denkschule in den Internationalen Beziehungen, die das staatliche Streben nach Macht in den Mittelpunkt der Analyse internationaler Politik stellt. Obgleich zahlreiche verschiedene Theorievarianten des Realismus existieren, teilen alle Ansätze die Annahme, dass Staaten in erster Linie an ihrem eigenen Überleben und nicht an ideellen Faktoren interessiert sind.

Tribalismus bezeichnet eine Politik, die sich ausschließlich an der Kultur des eigenen Stamms bzw. – allgemeiner gefasst – der eigenen Gemeinschaft orientiert. Damit geht oft ein Ausblenden der Lebens- und politischen Welten anderer Stämme bzw. Gemeinschaften einher.

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