Wenn Übersetzungen diskriminieren

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Philipp Sebastian Angermeyer2022

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Geschrieben von Dennis Yücel

Bei te.ma veröffentlicht 27.10.2023

te.ma DOI 10.57964/0ce4-5m32

Geschrieben von Dennis Yücel
Bei te.ma veröffentlicht 27.10.2023
te.ma DOI 10.57964/0ce4-5m32

Übersetzung kann ein wichtiges Instrument für Inklusion und soziale Gerechtigkeit darstellen. Aber sie kann gleichsam auch diskriminierende Effekte mit sich bringen. Der Soziolinguist Philipp Sebastian Angermeyer diskutiert benachteiligende Effekte des Dolmetschens vor Gericht und „strafenden Multilingualismus“ im öffentlichen Raum.

Sprachdifferenzen können zu Ausgrenzung und Diskriminierung sowie weiteren Formen von Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit führen. Wer in einem Land lebt oder zu Gast ist, ohne die dortige Landessprache zu beherrschen, erlebt womöglich eine benachteiligende Behandlung im öffentlichen Raum, in Krankenhäusern, auf Behörden, Polizeistationen oder vor Gericht. Wer die institutionalisierte Sprache eines Staates nicht spricht, kann dort oft nicht auf die gleiche Weise seine Rechte wahrnehmen. Das Recht auf Übersetzung gilt daher als wichtige Voraussetzung, um die in demokratischen Staaten rechtlich verbriefte Gleichheit aller Menschen zu wahren. Gleichermaßen gilt die Sichtbarmachung von Minderheitensprachen im öffentlichen Raum als Bekenntnis zu linguistischer Pluralität und gesellschaftspolitisches Instrument zur Förderung von Toleranz und Diversität. Der Soziolinguist Philipp Sebastian Angermeyer legt in seinem Aufsatz das Augenmerk jedoch auf gegenteilige Effekte und zeigt, wie Übersetzungen und Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum zu Diskriminierungen führen können. 

Er legt dar, dass nach derzeitiger Forschungslage etwa zur Praxis des Dolmetschens in Flüchtlingskontexten oder zu Gericht nicht davon ausgegangen werden könne, dass diese notwendig zu mehr Inklusion und Gerechtigkeit führe. Stattdessen, sagt er, könnte sie selbst als ein Mittel institutionell verankerter Ungleichheit fungieren. Angermeyer selbst forscht seit vielen Jahren über das Dolmetschen, vornehmlich an US-amerikanischen Gerichten. In dem vorliegenden Aufsatz greift er neben seiner eigenen Forschung auf zahlreiche weitere soziolinguistische Arbeiten aus juristischen und anderen Kontexten zurück. Zum einen zeigt er dabei auf, wie Sprachideologien und die Praxis des Dolmetschens vor Gericht Angeklagte und Zeug*innen diskriminieren und benachteiligen können. Zum anderen, wie Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum dazu dienen kann, Minderheiten zu diskriminieren und stigmatisieren – eine Form, die er strafenden Multilingualismus nennt.

In Hinblick auf gerichtliches Dolmetschen geht es Angermeyer dabei nicht um Einzelfälle, in denen Angeklagte oder Zeug*innen an unqualifizierte oder ungerechte Dolmetscher*innen geraten, sondern um die strukturellen Fallstricke der Praxis des Dolmetschens, die ungerechte und/oder diskriminierende Effekte mit sich bringen können. Dolmetschen, beschreibt Angermeyer etwa, funktioniere vor Gericht in der Regel in unterschiedlichen Modi, je nachdem, ob in Richtung der institutionalisierten Sprache oder der ihr untergeordneten Sprache (oder Varietät) übersetzt wird. Sprechen Angeklagte oder Zeug*innen vor Gericht in einer Fremdsprache, werde in der Regel konsekutiv übersetzt. Das heißt, die Person spricht in kurzen Absätzen, macht eine Pause (oder wird von Dolmetscher*innen oder Jurist*innen unterbrochen) und muss dann abwarten, bis die entsprechende Passage für die anderen Prozessteilnehmer*innen übersetzt wurde. Für diese Person selbst werde der Prozess jedoch meist simultan übersetzt. Das Verfahren geht dabei ohne Unterbrechung zwischen mehreren Personen hin und her, während ein*e Dolmetscher*in auf dem Nebenstuhl die Übersetzung in Echtzeit ins Ohr flüstert.

Angermeyer beschreibt, wie diese Regelung, die mehr auf den reibungslosen Ablauf des Verfahrens denn auf den fairen Umgang mit anderssprachigen Prozessteilnehmer*innen ausgerichtet sei, zweifach benachteiligt. Die simultane Übersetzung benachteilige zum einen, da aufgrund der hohen kognitiven Anforderung an Dolmetscher*innen einzelne Passagen des Verfahrens unübersetzt bleiben können. Zum anderen, weil die hohe Geschwindigkeit der parallel zum Verfahren geflüsterten Übersetzung keine Zeit lasse, das Verständnis des Gesagten zu überprüfen. Vielleicht noch schwerer wiegt die Problematik in die andere Richtung. Während Zeug*innen und Angeklagte vor Gericht meist Narrative präsentierten, die sowohl einer zeitlichen wie auch rhetorischen Logik folgten, führe das konsekutive Dolmetschen unweigerlich zu deren Zerstückelung. Zeug*innen und Angeklagte könnten so nur eine fragmentierte Rede halten. Dabei zeige die Forschung, dass sowohl die Kohärenz einer Geschichte als auch der Eindruck von echter Emotionalität entscheidende Kriterien für die Bewertung der Glaubwürdigkeit gerichtlicher Aussagen darstellen. Beides jedoch werde den Aussagen durch das konsekutive Dolmetschen genommen. Wie diese Mechanismen konkret funktionieren, zeigte Angermeyer jüngst etwa in einem Beitrag im Journal of Pragmatics.

Der zweite Teil des Aufsatzes widmet sich schließlich den diskriminierenden Effekten von Übersetzungen im öffentlichen Raum. Angermeyer untersucht, welche Arten von Beschilderungen in welche Sprachen übersetzt werden. Diskutiert wird etwa die Beschilderung eines Regionalzuges in Deutschland. Dort werden Reisende auf einer Infotafel über die drohende Strafe beim Reisen ohne gültigen Fahrschein aufgeklärt  – auf Deutsch, Englisch, Französisch und Türkisch. Andere Beschilderungen informieren Reisende über die Regeln für Vorzugsplätze, die Funktionsweise von Türen oder Notausgängen – auf Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. Eine Erklärung über Fahrgastrechte findet sich hingegen nur auf Deutsch. Türkischsprachige Fahrgäste, schließt Angermeyer, würden so herausgestellt und einzig als potenzielle Schwarzfahrer*innen angesprochen, während sie keine Informationen erhielten, die ihre Sicherheit oder ihren Komfort während der Zugfahrt verbessern würden. 

Beispiele aus anderen Ländern, die Angermeyer zitiert, zeigen ähnliche Muster, etwa in Hinblick auf Vietnamesisch in Australien oder Spanisch in den Vereinigten Staaten. Dabei geht es um Schilder, die Videoüberwachungen anzeigen, Alkohol verbieten oder zum Händewaschen auffordern. Ihnen allen gemeinsam, schließt Angermeyer, sei, dass sie Sprachen betreffen, die von größeren migrantischen Gruppen in den jeweiligen Ländern gesprochen werden und die dort häufig Zielscheibe von Rassismus werden. Angermeyer spricht hier von strafendem Multilingualismus: einer Form der Mehrsprachigkeit, der es nicht darum gehe, die Sprecher*innen anderer Sprachen einzubeziehen oder ihre Anwesenheit zu bekräftigen, sondern sie als potenzielle Gefährder*innen der öffentlichen Ordnung zu adressieren und gegenüber der Mehrheitsgesellschaft als solche auszuweisen. Gleichzeitig verschleierten die Schilder ihre diskriminierenden Effekte hinter einer Fassade von zur Schau gestelltem Sprachpluralismus. 

Angermeyer plädiert schließlich für gerechtere Formen des Übersetzens – Formen des Übersetzens, die nicht primär auf die wörtliche Übersetzung von Informationen abzielen, sondern sicherstellen, dass eine erfolgreiche Verständigung zwischen Menschen in beide Richtungen erfolgt. Grundsätzliche Leitlinien eines solchen Programms habe im Jahr 2016 etwa die Communication of Rights Group der American Association for Applied Linguistics (AAAL) ausgearbeitet.

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