Wir haben noch Wörter zuhause: Wie das Isländische seinen Wortschatz modern hält

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Yair Sapir, Ghil‘ad Zuckermann2008
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Wir haben noch Wörter zuhause: Wie das Isländische seinen Wortschatz modern hält

»Icelandic: Phonosemantic Matching«

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Geschrieben von Julian Andrej Rott

Bei te.ma veröffentlicht 18.12.2023

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/nxrc-cp67

Geschrieben von Julian Andrej Rott
Bei te.ma veröffentlicht 18.12.2023
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/nxrc-cp67

Lehnwörter sind in vielen Sprachen ein Mittel, um mit dem Wortschatz auf dem neuesten Stand von Technik und Weltgeschehen zu bleiben. Yair Sapir und Ghil‘ad Zuckermann beschreiben in ihrem Buchbeitrag, was das Isländische anders macht: Neben dem Erfinden völlig eigener Worte werden fremde Begriffe mit heimischen Begriffen klanglich nachempfunden. Die Sprache hat damit im europäischen Vergleich einen besonders radikalen Ansatz im Umgang mit vermeintlichem Fremdmaterial.

Sprachen mit wenigen Sprecher*innen haben es heutzutage nicht leicht. Selbst wenn auf dem eigenen geographischen Gebiet keine andere, größere Sprache vorhanden ist, sorgen Internet und Globalisierung für Selektionsdruck auf der Zunge. Und das gleich in zwei Richtungen: Einerseits müssen Hersteller von Alltagstechnik eine Lokalisierung in der eigenen Sprache für rentabel befinden, damit Smartphone, Alexa und Konsorten nicht in einer Fremdsprache, oftmals Englisch oder einer (ehemaligen) Kolonialsprache, mit einem sprechen.1 Andererseits muss die eigene Sprache auch fähig bleiben, neue Konzepte, Erfindungen und wissenschaftliche Erkenntnisse auszudrücken. Der Ausbau der Sprache muss gesichert sein, sonst bleiben Themengebiete unsagbar. Das Isländische hat einen besonderen Umgang mit dieser Herausforderung gefunden. Trotz einer Sprecher*innenschaft, die mit 372.000 Personen gerade mal zwischen der Einwohner*innenzahl Bochums und Duisburgs liegt, ist es – unter anderem dank seiner Insellage – nicht vom Aussterben bedroht. Im Gegenteil: Die Sprache ist ein wichtiges Identitätsmerkmal der Isländer*innen, das sie aktiv pflegen.

Dieses Sprachselbstbewusstsein gab es nicht immer: Bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts zählte Island zu den wirtschaftlich schwächsten Ländern Europas.2 Gründe hierfür waren unter anderem die schwierigen klimatischen Verhältnisse, ein verheerender Ausbruch des Vulkans Laki 1783 und das ausbeuterische Handelsmonopol der dänischen Krone, der das Land als Kolonie bis 1918 unterstellt war. Die Modernisierungen auf dem europäischen Kontinent erreichten die Insel lange Zeit spät bis gar nicht und wurden, wenn überhaupt, auf Dänisch besprochen. Die dänische Sprache fungierte als Verwaltungs-, Kultur- und Handelssprache, während Isländisch eher dem landwirtschaftlichen und häuslichen Alltag vorbehalten war.3 Bis heute ist Dänisch Pflichtfach in isländischen Schulen, und weit bis ins letzte Jahrhundert hinein wurde der weiterführende Schulunterricht zumindest teilweise auf Dänisch abgehalten.4 Mit dem Unabhängigkeitsbestreben erwachte im Rahmen der Nationalromantik im 19. Jahrhundert ein vermehrtes Interesse an Landschaft und Kultur des Landes. Im Zuge dieser Entwicklung wurde 1779 in Kopenhagen die Isländische Gesellschaft für Wissenschaft und Künste (Isl. Hið íslenska lærdómslistafélag) gegründet, deren Hauptanliegen unter anderem die Produktion von Informations- und populärwissenschaftlicher Literatur war.5 Ihr Nachfolger, die Isländische Literaturgesellschaft (Isl. Hið íslenska bókmenntafélag) verfolgt die literarische Pflege des Isländischen bis heute. Von Beginn an Teil der Statuten: Die Fachinhalte der Veröffentlichungen sollen allen isländischsprechenden Menschen zugänglich sein. Als die erste Gesellschaft ihre Arbeit aufnahm, fehlte es der Sprache für viele moderne Konzepte jedoch noch an Worten. Um die Niederschwelligkeit zu wahren, verzichtete die Literaturgesellschaft auf die oft intransparenten, griechisch-lateinischen Termini, die internationale Fachsprachen häufig prägen (ohne nachzuschlagen: Wissen Sie, welche Einzelteile das Wort Elektronenmikroskop hat und was genau sie jeweils bedeuten?). Viele wissenschaftliche und technische Begriffe wurden so direkt als erklärend-umschreibende Neologismen in die Sprache eingeführt.6 Auch der vielen Lehnworte aus dem kolonialistisch konnotierten Dänischen entledigte man sich auf diesem Wege aktiv, mit weitreichendem Erfolg. Dieser Ansatz hat sich bis heute erhalten (auf Isländisch heißt das oben genannte Gerät rafeindarsmásjá – zusammengesetzt aus raf „Strom-, Elektro-“7, eind „Teilchen, Einheit“, smá „klein“ und sjá „Sehen“, also etwa ein „Stromteilchenkleinseher“) und kann mittlerweile als fester Bestandteil der isländischen Sprachpolitik angesehen werden, maßgeblich gesteuert von der Sprachkommission am Árni Magnússon Institut in Reykjavík, bei der man sowohl eigene Wortvorschläge einreichen als auch Wortneubildungen erbitten kann. 

Um dennoch einen Brückenschlag zu den entsprechenden Internationalismen aufrechtzuerhalten, bedient sich die Sprachplanung unter anderem einer Technik, die die beiden Linguisten Yair Sapir und Ghil‘ad Zuckermann Phonosemantic Matching nennen, also einer „Reproduktion aus dem Externen und dem Internen gleichzeitig“. Ergebnis dieser Reproduktion ist ein Neologismus, der ohne Vorkenntnisse einleuchtet, aber dennoch eine möglichst enge lautliche, schriftliche und semantische Beziehung zu seinem Quellwort hat. Diese besondere Art der Entlehnung wurde von Zuckermann erstmals für das Hebräische beschrieben8 und mit diesem Beitrag nun auch im Isländischen beobachtet. Einige Beispiele:

  • ratsjá für „Radar“ (< Engl. radar ∩ Isl. rata „den Weg finden“ + sjá „Seher“)

  • tækni für „Technik“ (< Dän. teknik ∩ Isl. tæki „Werkzeug“ + Substantivendung -ni)

  • páfagaukur für „Papagei“ (< Dän. papegøje ∩ Isl. páfi „Papst“ + gaukur „Kuckuck“)

  • kórréttur für „korrekt“ (< Intl. correct ∩ Isl. réttur „richtig, recht“)

  • beygla für „Bagel“ (< Intl. bagel ∩ Isl. beygja „beugen“, beygla „Beule“)

  • eyðni für „AIDS“ (< Engl. AIDS ∩ Isl. eyða „zerstören“ + Substantivendung -ni)

Man könnte sagen, diese Art der Wortbildung ist eine Art instrumentalisierte Volksetymologie: ein Prozess, der sich unter anderem auch für die bei näherer Betrachtung etwas seltsam anmutenden deutschen Begriffe Hängematte9 und Armbrust10 verantwortlich zeichnet. Es handelt sich um einen sprachlichen Kompromiss zwischen dem internationalen Begriff und der heimischen Sprachstruktur, wie Sapir und Zuckermann es analysieren. Auf diese Weise hat das isländische Lexikon auch in heutigen Zeiten „eine Spur von Altertümlichkeit: Neologismen sind im Prinzip autochthon, ihre Bestandteile sind sozusagen 1000 Jahre alt oder zumindest scheinalt“, wie der Skandinavist und Fennist Ulrich Groenke es beschreibt.11 

Das Isländische hat es dabei sogar noch vergleichsweise einfach: Es ist eine indoeuropäische Sprache, genau wie Griechisch, Latein und Englisch – die Sprachen, die den Großteil der modernen Fremdwörter in der westlichen Welt stellen. Die Struktur seiner Worte und seines Lautsystems eignet sich also ziemlich gut für die Nachahmung des Phonosemantic Matching. AIDS /eɪdz/ und eyðni /eiðnɪ/ klingen und sehen sich ähnlich. Im Chinesischen, das diese Importstrategie ebenfalls großflächig einsetzt, beschreiben Sapir und Zuckermann das Pendant 爱滋病 àizībìng, zusammengesetzt aus 爱 ài „Liebe“, 滋 „erregen“, deren zusammengenommene Aussprache àizī das Englische Quellwort nachempfindet, aber auch „durch Liebe verursacht“ bedeutet und einordnend um 病 bìng „Krankheit“ erweitert ist. Die lautlichen Überschneidungen sind klar, aber allein schon durch das Schriftsystem ist der phonosemantische Match ein Stück weit subtiler.

Am Beispiel AIDS fällt ein weiteres Problem des Ansatzes auf: Man hat eine durch Liebe verursachte Krankheit auf Chinesisch, auf Isländisch sogar eine nominalisierte Zerstörung. Die verbauten Bestandteile sind nicht neutral, sondern bringen bestimmte Konnotationen mit. Gerade bei Bezeichnungen für menschliche Realitäten und medizinischen Begriffen können sich dadurch gesellschaftliche Vorurteile im Wort selbst manifestieren und im Lexikon auch dann noch halten, wenn sich die zugrundeliegenden Stigmata vielleicht bereits gebessert haben. Unter anderem aus diesem Grund hat man in beiden Sprachen mittlerweile alternative Begriffe eingeführt: Im Chinesischen ist es heute angebrachter, von 艾滋病 àizībìng zu sprechen, dessen erstes Zeichen zwar gleich klingt, aber keine semantische Bedeutung hat. Das Wort ist nun einfach die „AIDS-Krankheit“. Isländer*innen sagen neben eyðni auch alnæmi, aus al- „All-, Gesamt-“ und næmi „Empfindlichkeit“.

Das Vokabular einer Sprache ist so dynamisch wie die Welt, die es erfassen muss. Multilinguale und global vernetzte Kontexte bringen ein nie dagewesenes Spannungsmoment ein, dem Sprachen sehr unterschiedlich gegenübertreten. Strategien wie das Phonosemantic Matching zeigen aber, dass die hegemonialen Namensgeber der Welt nicht notwendigerweise bis ins Innerste des Wortschatzes vordringen müssen. Sprachkontakt kann auch kreative Triebkraft sein.

Fußnoten
11

Guðmundur Jónsson, Magnús S. Magnússon: Hagskinna: Sögulegar Hagtölur Um Ísland. Hagstofa Íslands, Reykjavík, 1997. 

Guðrún Kvaran: Hvernig og hvenær komst sá siður á að tala dönsku á sunnudögum? Vísindavefurinn, 9. Oktober 2015. 

Auður Hauksdóttir: Af hverju þarf maður að læra dönsku, af hverju ekki bara norsku eða sænsku? Vísindavefurinn, 22. März 2000. 

Halldór Halldórsson: Icelandic Purism and Its History. In: Word. Band 30, S. 76-86.

Im Deutschen ist dieser Ansatz eher selten, aber nicht völlig fremd. Man vergleiche unser Fernsehen mit der internationalen Television.

Der Wortbestandteil raf- „Strom-, Elektro-“ ist verkürzt aus der Wortschöpfung rafmagn „Elektrizität“, die sich in Anlehnung an die Abstammung des internationalen Wortes vom altgriechischen ἤλεκτρον (ḗlektron) „Bernstein“ aus den Worten raf „Bernstein“ und magn „Stärke“ zusammensetzt. Wörtlich ist Strom also sowohl auf Deutsch als auch auf Isländisch die etwas magisch anmutende „Bernsteinkraft“ – in letzterem ist es nur direkt ersichtlich.

Ghil'ad Zuckermann: Language Contact and Lexical Enrichment in Israeli Hebrew. Palgrave Macmillan, New York 2003.

Das Wort Hängematte ist eine Umbildung aus dem 17. Jahrhundert. Früher hatte es Formen wie Hamacos, Hamaca oder Hamach, die allesamt über das Spanische hamaca aus der karibischen Sprache Taíno stammen. Aufgrund der für das Deutsche ungewöhnlichen und nicht interpretierbaren Lautgestalt wurde das Wort erst zu Hengmatten, anschließend zu Hängematte uminterpretiert.

Das Wort Armbrust ist eine volksetymologische Umbildung aus dem mittellateinischen arbalista aus Latein arcuballista „Bogenschleuder“ (zu arcus „Bogen“ und ballista „Wurf-, Schleudermaschine“; vgl. ballistisch).

Ulrich Groenke: Prepared for the future: Icelandic language purism. In: Joseph Brincat, Winfried Boeder, Thomas Stolz (Hrsg.): Purism in minor languages, endangered languages, regional languages, mixed languages. Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum 2003, S. 1–10.

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Der Begriff „autochthon“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet soviel wie „einheimisch“. Er meint alteingesessene Menschen (und Tiere), die vermeintlich zu einem Ort gehören. Im Gegensatz dazu werden Einwander*innen als  „allochthon“ bezeichnet.

Die Nationalromantik war eine kulturelle Bewegung des 19. Jahrhunderts, bei der nationale Identität, Geschichte und Kultur im Zentrum standen. Sie basiert auf der Vorstellung, dass sich Nationen durch ihre Kultur definieren.

Lokalisierung steht in der Softwareentwicklung für die Anpassung von Programmen und Produkten an die sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten in einem Absatzgebiet. Beispielsweise erwarten Käufer*innen in Deutschland, dass die Meldungen ihrer Geräte auf Deutsch erscheinen.

Ein Neologismus (von altgriechisch νέο- (néo-), „neu“ und λόγος (lógos), „Wort, Rede“) ist ein neu geschaffener sprachlicher Ausdruck.

Ein Internationalismus ist ein Wort, das in mehreren Sprachen mit ähnlicher Bedeutung und Herkunft vorhanden ist und ähnlich gesprochen wird (z.B. dt. Funktion, engl. function, frz. fonction, russ. функция (funkcija) usw.).

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