„Wir verlieren derzeit eine ganze Generation.“ Ein Gespräch mit Philipp Christoph Schmädeke

Der Politikwissenschaftler Philipp Christoph Schmädeke hat sich der zivilgesellschaftlichen Verständigung zwischen Deutschland und Osteuropa verschrieben. Mit dem Science at Risk Emergency Office half er im vergangenen Jahr über 1.000 Ukrainern, Belarussen und Russen in Not. Im Gespräch mit te.ma wirft er einen nachdenklichen Blick auf die zerrissenen Bänder zwischen zunehmend isolierten Gesellschaften.

Umbruch | Krieg | Europa

Die Fragen stellte Sebastian Hoppe aus der Kuration des Themenkanals Umbruch | Krieg | Europa. 

Das Gespräch wurde im Dezember 2023 geführt. Bei Veröffentlichung war unklar, ob das Science at Risk Emergency Office eine Förderung für das Jahr 2024 erhalten wird.

Sebastian Hoppe: Herr Schmädeke, Sie versuchen seit Jahren, wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Brücken zwischen Belarus, der Ukraine, Russland und Deutschland zu bauen. Erreichen Sie mit Ihrer Arbeit überhaupt noch die Gesellschaften, mit denen Sie zusammenarbeiten wollen?

Philipp Christoph Schmädeke: Wir dringen vor allem nicht mehr in die russische Gesellschaft vor. Der Diskurs, den wir anstoßen wollen, bleibt auf Europa beschränkt. Das Akademische Netzwerk Osteuropa akno e.V., der Träger des Science at Risk Emergency Office, wurde im November 2023 vom russischen Staat zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. Jede Kooperation mit uns bedeutet nun bis zu sechs Jahre Gefängnis. Damit versucht man, unsere Arbeit im Land, aber auch mit sämtlichen russischen Staatsangehörigen, unmöglich zu machen.1 Allein personell müssen wir uns nun zehnmal überlegen, mit wem wir kooperieren und wie weit wir in dieses Land hineinreichen wollen und können, ohne jemanden zu gefährden. Im größeren Kontext betrachtet heißt das, dass Kommunikation zwischen Gesellschaften nicht mehr stattfindet. In dieser Hinsicht droht der russischen Gesellschaft ein ähnliches Schicksal wie der chinesischen oder nordkoreanischen. Man entwickelt sich isoliert und verschanzt sich hinter hermetisch versiegelten Ideologien und Narrativen. Es gibt keine Durchlässigkeit mehr. 

SH: Und dennoch haben Sie nach dem 22. Februar 2022 mit dem Science at Risk Emergency Office ein Projekt gestartet, das gegen diese Isolation ankämpft. Wie kam es dazu?

PCS: akno war ursprünglich eine Organisation, die von den mutigen Demonstrationen in Belarus im August 2020 inspiriert war. Zu dieser Zeit gab es unglaublich viele Unterstützungsaktionen in Berlin und die Hoffnung, dass sich tatsächlich etwas ändert in Belarus. Ich habe selbst zu Regimewechseln geforscht, und als die Polizisten in Minsk ihre Uniformen und Abzeichen wegwarfen und verbrannten, dachte ich, dass das ein Kipppunkt sein könnte. Die Abspaltung von Teilen des Sicherheitsapparates ist eine wichtige Voraussetzung für einen friedlichen Wandel.2

Meine Vision war es immer, ein politik- und sozialwissenschaftliches Zentrum für Transformationsforschung in Belarus zu etablieren. Leider war das unter den gegebenen Umständen nicht möglich. Als abzusehen war, dass die Protestbewegung unter immer stärkeren Druck des staatlichen Repressionsapparates kam, galt es daher, diese Vision erst mal zurückzustellen und denjenigen belarussischen Kollegen zu helfen, denen Gefängnis drohte, die das Land verlassen mussten oder ihren Job verloren hatten. Wir haben dann zusammen mit anderen belarussischen Aktivisten damit begonnen, Datenbanken aufzubauen, die politisch verfolgte belarussische Studierende und Wissenschaftler unter maximalen Sicherheitsvorkehrungen zu listen und zu registrieren. Über meine Netzwerke habe ich versucht, deutsche Institutionen zu finden, die diese Verfolgten aufnehmen können. Zu Beginn waren wir also nur eine Handvoll Leute ohne Geld oder irgendwelche anderen Mittel – außer unserem Idealismus. 

SH: Mittlerweile haben Sie so Hunderten Wissenschaftlern und Studierenden geholfen. Wo kommt das Geld dafür her?

PCS: Wie so oft im Leben kam uns der Zufall zu Hilfe. Über unsere Netzwerke kam zuerst das Engagement der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) mit ihrer Geschäftsführerin Gabriele Freitag, die uns eine institutionelle Basis gab und bei der Akquirierung von Spenden und Fördermitteln half. Und dann entstand im Zuge des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges und dem eklatanten Mangel an Fördermöglichkeiten für verfolgte Wissenschaftler und Studierende in Deutschland auch ein Interesse seitens der Politik. Im Mai 2022 hat der Bundestag dann schließlich beschlossen, uns über das Auswärtige Amt eine hohe sechsstellige Summe zur Verfügung zu stellen, um unsere Arbeit noch professioneller zu machen. Das war im Prinzip die politische Reaktion auf den Angriff auf die Ukraine, nicht auf die Proteste in Belarus – hier ist bis heute nichts passiert. In dem Moment sind wir von einer rein auf Belarus fokussierten Organisation zu einer Organisation geworden, die sich auch für Gefährdete in der Ukraine und Russland einsetzt. Gleichzeitig haben wir begonnen, uns zu professionalisieren. Das Ergebnis war das Science at Risk Emergency Office. 

Es ist unrealistisch, dass Wissenschaftler aus der Ukraine, Belarus und Russland an einer deutschen Universität konkurrenzfähig werden.

SH: Wie versuchen Sie konkret, wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Austausch aufrechtzuerhalten?

PCS: Wir haben für jedes der Länder jeweils ein eigenes Team. Sie alle bekommen das gleiche Budget. Daraus fördern wir Wissenschaftler, indem wir Konferenzen, Veranstaltungen, Interviews, Sprachkurse oder auch Rechtsberatung organisieren. Ab und zu organisieren wir auch Lehraufträge für geflohene Wissenschaftler. Ursprünglich war das Ziel, die Forschenden und Lehrenden aus den postsowjetischen Ländern in westlichen Institutionen zu etablieren. Doch das funktioniert nicht.

SH: Was sind die Gründe?

PCS: Nach drei Jahren Erfahrung mit solchen Versuchen kann ich sagen, dass es unrealistisch ist, dass Forschende aus dem postsowjetischen Raum an einer deutschen Universität konkurrenzfähig werden.3 Das schafft vielleicht einer unter Hunderten, und der kommt dann von der Higher School of Economics in Moskau oder einer anderen Hochschule aus Moskau oder St. Petersburg. Es fehlen einfach die sprachlichen Voraussetzungen, die Masse und Qualität der Publikationen, die internationalen Konferenzteilnahmen. Im Fall von Belarus ist das am dramatischsten, weil das Land seit 1996, aber eigentlich schon seit 1994 komplett isoliert und abgetrennt ist von der westlichen Forschungslandschaft.4 Ein durchschnittlicher belarussischer Wissenschaftler war vielleicht mal in Moskau, Petersburg oder Rostow auf einer Konferenz. Das war es dann aber auch. 

Wir haben daher schrittweise die akademische Vermittlung reduziert, weil das wahnsinnig viel Ressourcen und Kraft kostet und einfach zu wenig Ergebnisse bringt. Stattdessen bringen wir die Leute insofern wieder ins wissenschaftliche Arbeiten, als wir mit ihnen ein Seminar machen, eine Vorlesungsreihe, Runde Tische oder Konferenzen und Interviews organisieren. Somit bekommen sie Publikum und Austausch und werden noch zusätzlich von uns finanziell gefördert. In diesem Modus konnten wir im Jahr 2023 550 Personen fördern, hinzu kommen u.a. noch über 500 aus dem gemeinsam mit der University of New Europe implementierten akno-UNE-Mentoring-Programm. An dieser Stelle muss man den entsprechenden politischen und staatlichen Akteuren für die Fördermittel danken, denn ehrenamtlich kann man so etwas nicht stemmen. Ohne entsprechende Finanzierung kann man das eine Zeit lang machen, ist aber schnell ausgebrannt. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass wir durch die Finanzierung unser eigenes IT-System aufbauen konnten, das einen angemessenen Schutz unserer Mitarbeiter und der geförderten Wissenschaftler ermöglicht.

SH: Sind solche Vorsichtsmaßnahmen denn notwendig?

PCS: Absolut! Gestern hat hier vor unserem Büro ein Auto gestanden, das zwei Stunden lang die Scheinwerfer in unser Fenster hat scheinen lassen. Vielleicht wird man mit der Zeit auch paranoid, aber wir halten unsere Adresse ganz bewusst geheim. Es gab auch vereinzelte Übergriffe bei Veranstaltungen, die wir organisiert haben. Teilweise kooperieren wir auch mit Leuten, die in Russland oder Belarus aus politischen Gründen gesucht werden. Wir können nicht verhindern, dass sie mit den Sicherheitsorganen in Konflikt geraten, aber wir wollen wenigstens das Unsrige tun – auch zum Schutz unserer eigenen Mitarbeiterinnen.

SH: Wie wirkt sich der Krieg auf die Stimmung zwischen ihren Teams aus?

PCS: Unser Team managt das wirklich hervorragend. Wir reden hier beispielsweise Russisch, einfach weil es sich als Verkehrssprache anbietet. Und da geht es natürlich nicht, wenn jemand verweigern würde, per se mit Russen zusammenzuarbeiten oder Russisch zu sprechen. Eine Maßnahme, um Konflikte zu vermeiden, war von Anfang an, die Teams strikt nach Ländern zu trennen. Anders würde es auch gar nicht funktionieren, fürchte ich. Ukrainer könnten unter bestimmten Umständen auch der Kollaboration angeklagt werden, wenn sie mit Russen öffentlich kooperieren. Und ich sage nur so viel: Auch die Belarussen, mit denen wir zusammenarbeiten, haben zum Teil keine Lust mehr, mit Russland in einen Topf geworfen zu werden. Sie haben es oftmals satt, dass ihre eigene Kultur, Sprache und Identität vom russischen Diktum an den Rand gedrängt wird. Daher ist es wichtig, aus den alten Narrativen herauszukommen, in denen Russlands reiche Geschichte und Kultur immer dominiert.

Auch Belarussen haben es satt, dass ihre eigene Kultur, Sprache und Identität vom russischen Diktum an den Rand gedrängt wird.

SH: Was erhoffen Sie sich konkret von der Förderung gefährdeter Wissenschaftler?

PCS: Wir müssen über die Gegenwart hinausdenken. Wer soll denn die Ukraine später mal aufbauen? Wer soll denn den Staat und die Universitäten übernehmen, führen und mit pluralistischen Werten ausfüllen, wenn es tatsächlich zu einer Transformation in Russland oder in Belarus kommt? Für die Gesellschaften dieser Länder gibt es keine alternativen Bildungsangebote mehr.5 In der Ukraine ist die Situation durch den Krieg natürlich am extremsten. 20 Prozent der Wissenschaftler, die wir befragt haben, haben eine Person im Krieg verloren. Wir können noch gar nicht ermessen, was da gerade passiert. Es ist überhaupt sehr schwierig, durch die bisherige Hilfe und Unterstützung strukturell und langfristig etwas zu bewegen. Wenn man das wirklich wollen würde, wären die benötigten Summen enorm.

SH: Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit von der Politik genug unterstützt wird?

PCS: Es gibt tolle Menschen in der Politik, in den Stiftungen und an den Universitäten, die unsere Arbeit tatkräftig unterstützen. Schaut man auf das große Bild, ist das aber alles viel zu wenig. 550 finanziell unterstützte Menschen (die davon maximal zwei bis drei Monate ihr Auskommen bestreiten können) sind letztendlich auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben erst kürzlich ein groß angelegtes Monitoring in der Ukraine durchgeführt: Im März 2022 haben 15 Prozent der 4.000 befragten Akademiker angegeben, dass sie finanzielle Unterstützung brauchen. Mittlerweile sind es über 50 Prozent. Wir gehen davon aus, dass es mehr als 120.000 Akademiker in der Ukraine gibt. Wenn davon 60.000 finanziell am Abgrund stehen, kann man sich vorstellen, wie die Situation ist. Gehälter im akademischen Bereich in postsowjetischen Ländern sind sowieso ein großes Problem.6 Dazu kommen noch rund 1,3 Millionen Studierende allein in der Ukraine.  

Das Auswärtige Amt sagt uns immer, dass sie bereits etwas für Belarus machen. Aber da geht es um Programme mit 50 Plätzen – für Studierende aus aller Welt. Dann gibt es noch die Töpfe der Philipp Schwartz-Initiative, die von der Alexander von Humboldt Stiftung implementiert und mit relativ hohen Beträgen vom Ministerium gefördert wird. Das ist alles sehr gut, allerdings werden in diesen Programmen teilweise weit über Hunderttausend Euro für eine einzige Person ausgegeben. Die Hürden sind enorm hoch, sodass weit weniger als ein Prozent der Gefährdeten von diesem Programm, das halbjährlich 25 Scholars at Risk weltweit fördert, profitieren – vom postsowjetischen Durchschnittsforschenden ganz zu schweigen. Wir versuchen, da mit unserer vergleichsweise breiten Förderung mit hohen dreistelligen und niedrigen vierstelligen Fördersummen eine Lücke zu schließen, was aufgrund der hohen Zahl an Gefährdeten allerdings nur begrenzt gelingen kann. Ein weiteres politisches Problem auf EU-Ebene kann man am Beispiel der Karls-Universität in Prag beobachten: Die Universität hat Studienplätze für Russen zur Verfügung gestellt, der Staat ist aber sehr restriktiv bei der Visa-Vergabe. 

SH: Machen die punktuellen Förderungen des Science at Risk Emergency Office denn überhaupt einen Unterschied?

PCS: Manchmal machen tausend Euro schon einen großen Unterschied. Das Geld bewegt etwas in dem Sinne, dass sich eine Person ein neues Notebook kaufen kann, wenn sie ihr altes beim Grenzübertritt aus Sicherheitsgründen nicht mitnehmen konnte oder es beschlagnahmt wurde. Es geht auch um Zug- oder Flugtickets, um aus dem Land zu flüchten, oder das Geld für Medikamente oder drei Monate Miete, bis man wieder einigermaßen auf eigenen Beinen steht. Man braucht nicht immer eine Universitätsneugründung oder millionenschwere neue Stipendienprogramme. Stattdessen sollte man wie in der Entwicklungszusammenarbeit vielmehr Hilfe zur Selbsthilfe geben. Zusätzlich müsste man jetzt massiv in die Kooperation zwischen deutschen und ukrainischen Universitäten investieren. So etwas können nicht kleine Player wie wir machen. Hier geht es um Austausch und Wissenstransfer im Sinne von Brain Circulation anstelle von Brain Drain und die Erkenntnis, dass wir es bei politisch verfolgten und durch Krieg bedrohten Wissenschaftlern meist mit den intellektuellen Herzkammern ihrer Herkunftsländer zu tun haben – ganz zu schweigen von deren Wirkungen als gesellschaftlichen Multiplikatoren und den Studierenden als die zukünftigen Eliten in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Und so gilt für die belarussischen und russischen, aber auch für die iranischen, ägyptischen, chinesischen und die vielen anderen akademischen Exilgemeinschaften, dass eine vorausschauende Politik diesen die Möglichkeit geben muss, sich akademisch selbst zu organisieren, ohne dass ihnen bürokratische oder ausländerrechtliche Steine in den Weg gelegt werden. Ansonsten drohen diese hoch potentiellen Multiplikatoren in Lehre und Forschung zu sozial isolierten Einzel- und Überlebenskämpfern zu verkommen.7 Dafür fehlt aber das Bewusstsein. Es droht derzeit ein Szenario, bei dem wir eine ganze Generation an Wissenschaftlern und Studierenden aus Osteuropa verlieren.

Es droht ein Szenario, bei dem wir eine ganze Generation an Wissenschaftlern und Studierenden aus Osteuropa verlieren.

SH: Wie stehen Sie zur Entscheidung zahlreicher deutscher Institute und Forschungsverbände, nach Kriegsbeginn die Kooperation mit russischen Partnerinstitutionen einzustellen?

PCS: Die Entscheidung, die Kooperation mit staatlichen Strukturen einzustellen, ist aus meiner Sicht komplett richtig. Diese Institutionen sind nicht unabhängig. Zudem gab es gerade in den letzten zwei Jahren noch einmal ganz viele Wechsel in den Führungen der wissenschaftlichen Universitäten und Organisationen in Russland. Alles, was irgendwie liberal war, ist nun entlassen, im Gefängnis, unter Hausarrest, geflüchtet oder anderweitig zum Schweigen gebracht worden. Was ich nicht verstehe, ist, warum man das durch den Abbruch vieler Projekte frei gewordene Geld nicht dazu verwendet, um oppositionelle, exilierte oder allgemein vom Krieg betroffene Wissenschaftler zu unterstützen. Davon hätten nicht nur die Empfänger etwas, sondern auch unsere Gesellschaften.  

SH: Anscheinend teilt die staatliche Forschungsförderung Ihren Humanismus nicht.

PCS: Das verlange ich auch nicht. Alles, was ich mir wünsche, wäre mehr Pragmatismus und mehr vorausschauendes Denken und Handeln. Allerdings wird die akademische Förderlandschaft in der Regel von den gleichen großen Playern bespielt, die das schon seit Jahrzehnten machen und sich strukturell entsprechend festgefahren haben. Damit sind drei Probleme verbunden. Erstens können sie sehr schlecht auf Krisen reagieren, in denen oft schnelles Handeln und Flexibilität gefragt sind. Zweitens sind die Strukturen auf Wissenschaftsaustausch – auch mit autoritären oder korrupten Regimen – und auf Exzellenz ausgerichtet, nicht jedoch auf die besonderen Risiko-Situationen der betroffenen Akademiker, die von Land zu Land sehr unterschiedlich sind. Drittens gibt es vor allem für die großen Länder wie Russland eine entsprechende Lobby, für mittelgroße und wichtige Nachbarländer der EU wie Belarus und die Ukraine eher weniger oder gar nicht. Das ist insofern bemerkenswert, als sich in Russland die oppositionellen Bewegungen und Massenproteste zumindest seit 2012 sehr in Grenzen gehalten hatten und zivilgesellschaftliche Organisation und Protest – wenn überhaupt – nur noch in Kleinstgruppen in den großen Metropolen wie Moskau und Petersburg bzw. in Teilen Sibiriens zu beobachten gewesen ist. In Belarus hingegen ist – ähnlich wie in der Ukraine (2004/05 und 2013/14) 2020 – eine ganze Gesellschaft aufgestanden, die unsere Unterstützung verdient gehabt hätte, als sie ja genau für unsere pluralistischen und demokratischen Werte eingetreten war. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum nach wie vor keine belarussischen Soldaten im Krieg sind. Das Regime kann sich auf seine Bevölkerung „nicht verlassen“, weil sie nach wie vor – wenn auch jetzt im Stillen – den Machthabern die Stirn bietet. 

SH: Hat der 22. Februar 2022 Ihr Russland-Bild verändert?

PCS: Ja. Für mich ist das Paradoxe und zugleich Begrüßenswerte, dass wir hier bei uns eine neue Welle der Aufarbeitung der russischen Geschichte und Narrative haben, auch wenn sie reichlich spät einsetzt. Aber zumindest gibt es diese Aufarbeitung. Wir schauen beispielsweise wieder genauer auf die Kriegsverbrechen, die durch die Rote Armee, den NKWD und die stalinistischen Regime in ganz Mittel- und Osteuropa begangen wurden. In Russland hingegen sehen wir eine komplette Verklärung der Realität. Insgesamt hat der Krieg gegen die Ukraine aber zumindest außerhalb seiner Grenzen die russischen Narrative erschüttert. 

SH: Können Sie das genauer erklären?

PCS: Viele russische Narrative wurden nie hinterfragt. Jahrelang fuhren westliche Staatsgäste zu den Feiern am 9. Mai. Dort wurde dann der große Sieg Russlands zelebriert – obwohl hier Soldaten aus allen Sowjetrepubliken gekämpft und gelitten hatten und insbesondere Belarus und die Ukraine durch den deutschen Vernichtungsfeldzug die meiste Zerstörung und die meisten Opfer in der Zivilbevölkerung zu beklagen hatten.8 Dies wurde – auch in Russland – bis zu Putins Machtantritt immer auch als ein Tag der Trauer und des stillen Gedenkens begangen. Unter Putin wurde dieser Tag umfunktioniert zu einer sehr pompösen Selbstvergewisserung Russlands und seiner nationalen Größe und Unbesiegbarkeit. Auch die unheilvolle Gewaltgeschichte der Sowjetunion seit ihrer Gründung 1917/1922 mit millionenfachen Opfern aus allen Volksgruppen durch Bürgerkriege, politische Unterdrückung und stalinistischen Terror ist in vielen westlichen Gesellschaften – wie auch in Russland selbst – verharmlost oder gar romantisiert worden.9

SH: Schaut man auf deutsche Kooperationen mit der Region, scheint es eine Ausweichbewegung zu geben: In Russland und Belarus sind die Türen mittlerweile verschlossen, nun wendet man sich verstärkt dem Kaukasus und Zentralasien zu, vor allem Kasachstan. Besteht nicht eine gewisse Gefahr, dass früher oder später auch von diesen Ländern die Hoffnungen enttäuscht werden?

PCS: Als Politikwissenschaftler sage ich: Es ist bitter, dass man mit autoritären Staaten so eng kooperiert. Auch mit dem Iran hat man lange Zeit vieles offen gehalten. Ich hätte mir gewünscht, dass man da mehr Geld für die Zivilgesellschaft bereitgestellt hätte. Denn diese Regime sprechen eine andere Sprache als wir. Ist man realistisch, muss man sagen, dass man in den kommenden Jahren vor denselben Fragen stehen wird wie jetzt mit Russland. Noch im Januar 2022 hat Kasachstan mit russischer Unterstützung die eigene Bevölkerung zusammengeschossen.10 Ich verstehe, dass man in der Makroregion „Eurasien“, wenn man das so nennen will, Zugänge aufrechterhalten will. Aber viele sehen die Situation vieler Länder zu rosig.

Wir hatten zu lange die Illusion, dass wir an der russischen Entwicklung etwas von außen ändern können.

SH: Hatte man im Westen ein falsches Bild von der russischen Zivilgesellschaft?

PCS: In den 1990ern wurde das Gegenteil der jetzigen Situation auf Russland projiziert. Zudem hatten wir im Westen zu lange die Illusion, dass wir an der russischen Entwicklung etwas von außen ändern können. Das war den Regimen und ihren Eliten allerdings egal. Sie haben sich auf das konzentriert, was für sie profitabel war: Öl- und Gasgeschäfte, den Kauf von teuren Immobilien und Schiffen im Westen und die Nutzung von englischen und amerikanischen Eliteuniversitäten für ihre Kinder. Indem wir das ermöglicht haben, haben wir den Zivilgesellschaften der Länder massiv geschadet, denn die Einnahmen halfen einer kleinen korrupten Elite, die sich vor allem aus den Sicherheitsstrukturen rekrutiert, unermesslichen Reichtum anzuhäufen und sämtliche zivilgesellschaftliche Bewegung – als potentielle Gefahr für den eigenen Machterhalt – zu unterdrücken und schließlich auszulöschen.

SH: Russische Zivilgesellschaft findet heute vor allem in der Diaspora statt. Auf diese gibt es zwei Perspektiven: Die einen sagen, das ist die alte Garde der 1990er und 2000er, die selbst keinen Rückhalt und Einfluss in Russland hat. Andere meinen, dass die Diaspora ein wichtiger Pool an Leuten ist, die in der Zukunft vielleicht einmal das Land demokratisieren werden.

PCS: Das muss man differenziert betrachten. Es gibt tolle und engagierte Leute aus Russland – und zwar aus allen Regionen und Generationen. Das sind mutige und unerschütterliche Kämpfer für eine freie und pluralistische Gesellschaft. Dann gibt es sehr viele, die erst mal schauen, dass sie selbst klarkommen. Auch das ist sehr menschlich und nachvollziehbar. Aber der Unterschied zu Belarus fällt schon auf: Hier hat sich eine richtig starke und vitale belarussische Zivilgesellschaft im Exil entwickelt, gerade in Deutschland, in Polen und in den baltischen Staaten. Da hilft eine Hand der anderen. Es gibt ein gemeinsames Einstehen und Streben, all denen zu helfen, die jetzt repressiert sind, die verfolgt werden, die Hilfe brauchen, medizinisch, materiell oder welcher Art auch immer. Es gibt auch eine Reihe von Organisationen, die immer noch – trotz Sanktionen und des großen Risikos – Geld nach Belarus bringen. Das sehe ich in einem solchen Ausmaß – insbesondere im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – so nicht in der russischen Diaspora. Wobei es, wie gesagt, auch hier viele beeindruckende Menschen und auch journalistische wie zivilgesellschaftliche Organisationen gibt, die sehr viel riskieren und tagtäglich gegen das menschenverachtende Regime im Kreml kämpfen. Aber sie sind eindeutig in der Minderheit. Die Mehrheit der russischen Gesellschaft – auch im Ausland – unterstützt aktiv oder zumindest passiv den Krieg und das Regime.

Die Zivilgesellschaft ist in Russland selbst mittlerweile fast nicht mehr existent.

SH: Die ukrainische Zivilgesellschaft hingegen wurde durch den Krieg enorm mobilisiert und zusammengeschweißt. Wo sehen Sie diese nach zwei Jahren Invasion?

PCS: Ich habe das Gefühl, dass der Grad der Erschöpfung zunimmt. Von den vielen Millionen, die geflohen sind, werden sicherlich nicht alle zurückkehren. Und ich glaube, das realisieren immer mehr Leute. Sowas hat natürlich Rückwirkung auf die in der Ukraine lebenden Menschen und Familien, die tagtäglich dem russischen Terror und den alltäglichen Entbehrungen ohne Strom, Heizung etc. ausgesetzt sind, während im unmittelbaren Umfeld Verwandte, Freunde und Bekannte sterben oder schwer versehrt von der Front zurückkehren. Zudem scheinen mir neue Bruchlinien zu entstehen: und zwar nicht nur zwischen denen, die geflohen sind, und denen, die geblieben sind, sondern auch denjenigen, die auf dem zeitweise okkupierten Territorium oder in Frontnähe wohnen, und solchen, die in Teilen in der Westukraine vergleichsweise ruhig und „normal“ leben oder sich dem Militärdienst entziehen. Viele dieser Konflikte werden noch durch den täglichen Krieg überlagert. 

Trotzdem bin ich überzeugt, dass die Ukraine eine echte Zukunft hat, denn im Gegensatz zu früher wird das Land nun endlich auch als Teil Europas wahrgenommen und die Zivilgesellschaft ist, nach zwanzig Jahren Revolution, Re-Autokratisierung, erneuter Revolution, Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass extrem stark, sehr stabil und exzellent organisiert. Das hilft dem Land und der Gesamtgesellschaft, auch weiterhin und langfristig Widerstand zu leisten und schließlich im Sinne einer freien Gesellschaft wiederaufzubauen.

SH: Und was ist mit Belarus und Russland?

PCS: Belarus hat meiner Meinung nach auch eine freie und pluralistische Zukunft, denn auch hier lebt die Zivilgesellschaft, wie das Jahr 2020 gezeigt hat, trotz der seit 1994 andauernden Regentschaft Lukaschenkos, der ökonomischen und militärischen Abhängigkeit von Russland und der aktuell massiven Repression: Kaum ein Land weltweit verzeichnet mehr politische Gefangene im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wie Belarus. Aber bei Russland weiß ich einfach nicht, wie das Land in den nächsten Jahrzehnten aus seiner selbst geschaffenen Sackgasse herauskommen will. Und das betrifft nicht nur die Politik der Kreml-Eliten, die sich durch den gesamten Staat und seine Ressourcen gefressen haben. Auch die Unterschiede im zivilgesellschaftlichen Potenzial sind im Vergleich zu Belarus und der Ukraine gigantisch. Die bereits erwähnte große, zumindest passive Unterstützung des Angriffskrieges in Russland ist erschreckend. Sicherlich spielen auch Angst und Ohnmacht eine Rolle. Aber auch wenn es Russen gibt, die sagen, der Krieg muss aufhören, dann meint eben ein großer Teil von ihnen, dass er aufhören muss, weil er für sie persönlich schädlich ist, nicht aufgrund seiner ethischen Verwerflichkeit und der anvisierten Vernichtung ukrainischer Kultur, Sprache, Identität und Staatlichkeit. Die Zivilgesellschaft ist in Russland selbst mittlerweile fast nicht mehr existent. Vor einem knappen Jahr habe ich lange mit einer in Russland sehr bekannten Intellektuellen gesprochen. Ich habe sie gefragt: Warum? Und wissen Sie, was sie mir antwortete? „Damals, als der Fernsehsender NTW geschlossen wurde, haben wir alle gejubelt. Als andere Sender und Organisationen verboten wurden, haben wir auch gejubelt. Und als wir selbst dran waren, da war es zu spät.“ Mittlerweile ist von der organisierten Zivilgesellschaft wenig übrig.

Fußnoten
10

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