Seit der Veröffentlichung seines Hauptwerks Vom Kontinent zur Union – Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa (2016) gehört van Middelaar zu den meistdiskutierten und -kritisierten Beobachtern der europäischen Integration.
Wie kommt man in Anbetracht einer nach wie vor anhaltenden Serie von Krisen, die mit der
Die wichtigste Veränderung der EU-Politik seit den 2010er Jahren beschreibt van Middelaar als Wandel von der „Politik der Regulierung“ zur „Politik der Ereignisse“ (event-politics). Traditionell habe sich die EU auf die Ausgestaltung des „regulatorischen Staates“ beschränkt: Wie können der Binnenmarkt vertieft, das europäische Bildungssystem harmonisiert, Gelder zwischen reichen und armen Regionen umverteilt werden? Statt harter Eingriffe seien
Die Eurokrise der Jahre 2010 bis 2012, der Konflikt um die Ukraine 2013 bis 2015, die Flüchtlingskrise 2015 und die „atlantische Krise“ in Form von Donald Trump und dem Brexit seit 2016 hätten nun aber dafür gesorgt, dass von der EU mehr verlangt werde als die der Alltagspolitik enthobene Verwaltung von Waren, Personen und Dienstleistungen. Immer mehr einschneidende, transformative Ereignisse, die der Historiker William H. Sewell Jr. als Dinge, Taten und Handlungen beschrieben hat, die den „Lauf der Geschichte verändern“
Damit hänge eine zweite Veränderung zusammen. Die DNA der EU, so van Middelaar, beruhe seit jeher auf der Entpolitisierung von Entscheidungen, die meist in langen, mehrtägigen Sitzungen im
Bringen also Entscheidungszwang und Politisierung das europäische Projekt voran? Im Hintergrund scheint hier der Geist des umstrittenen Juristen und politischen Philosophen
So spiele der Europäische Rat mittlerweile bei allen wichtigen Entscheidungen „die erste Geige“. Und das sei aus demokratischer Perspektive auch zu begrüßen, denn nur er habe die Autorität und Legitimität, vermittelt über die gewählten Regierungschefs, im Namen aller Europäer zu sprechen. Da der Rat seit Beginn der 2010er Jahre immer weitreichendere Entscheidungen treffe, gleichzeitig aber auch das Europäische Parlament gestärkt worden sei, entfalteten sich nun erstmals wirkliche demokratische Konflikte innerhalb der EU-Institutionen.
Denn die pragmatische Entscheidungsfindung im Angesicht neuartiger Krisen – van Middelaar nennt dies Improvisation – mute den europäischen Öffentlichkeiten einiges zu. Europas Demokratien stünden jedoch nicht kurz vor dem Zusammenbruch, sondern würden es im Gegenteil erst ermöglichen, dass die sozialen und politischen Konflikte sichtbar werden, die die Entscheidungen der EU verursachten. Dissens, Opposition und Protest gegen das Missmanagement der Euro-Krise, den Umgang mit Migration und die Positionierung der Union gegenüber Russland und China sieht van Middelaar als Zeichen der Wiederbelebung europäischer Politik nach Jahrzehnten der
Kritiker wenden hingegen ein, dass der Fokus van Middelaars auf die Entscheidungsfähigkeit der EU problematische Entwicklungen innerhalb der Gemeinschaft ausblende. Diese würden durch eine Re-Politisierung der europäischen Öffentlichkeit vielleicht sichtbarer, seien dadurch aber noch lange nicht behoben.
Tatsächlich sind es gerade die tiefen wirtschaftspolitischen Konflikte, deren destruktives Potenzial van Middelaar möglicherweise unterschätzt. Der Anfang der 2010er Jahre denkbare Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone oder die Verhandlungen über ein Post-Brexit-Abkommen sind nur zwei Beispiele, die die Union in den vergangenen Jahren immer wieder an den Rand der Handlungsfähigkeit gebracht haben. Zu den strukturellen Problemen der Eurozone haben sich mittlerweile noch eine humanitäre Dauerkrise an den europäischen Außengrenzen sowie ein Hinterherhinken Europas gegenüber den USA und China bei Zukunftstechnologien und Industriepolitik gesellt. Somit ist fraglich, ob van Middelaars Appell an die europäischen Gesellschaften für „mehr Verständnis gegenüber den Entscheidungen der Union“ ausreicht, um die EU tatsächlich als globalen Player aufzustellen.