Auch an der Katholischen Universität Löwen, der ältesten und wichtigsten Universität Belgiens, gehen im Sommer 1968 Student*innen auf die Barrikaden. Anders als bei den Protesten in Berkeley, Berlin oder Paris, die größtenteils von linken Bewegungen getragen werden, dominieren auf den dortigen Kundgebungen allerdings nationalistische Töne. Flämische Student*innen fordern ein Ende der Zweisprachigkeit an ihrer Universität. Am Ende führen ihre Forderungen zur Spaltung: In Löwen wird Niederländisch zur verpflichtenden Lehr- und Forschungssprache. Für französischsprachige Student*innen wird hingegen rund 30 Kilometer südlich die Planstadt Louvain-la-Neuve aus dem Boden gestampft. „Neu-Löwen“ ist künftig Sitz der frankophonen Université Catholique de Louvain.
Der belgische Linguist Jan Blommaert beschreibt die Universitätsteilung von Löwen als Vorspiel zu einer Serie von (sprach)politischen Konflikten, die die belgische Gesellschaft seit den 1970er Jahren prägen. Andauernde Auseinandersetzungen zwischen niederländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen, schreibt er, hätten zu einer „byzantinischen politischen Struktur“ geführt, deren „groteske Komplexität“ das Land in wichtigen politischen Fragen oftmals lahmlege.
Tatsächlich ist der Föderalismus Belgiens berüchtigt für seine unüberschaubare Verwaltungs- und Regierungsstruktur, die sich aus speziellen Sprachgesetzen ergibt. Der Staat ist in drei Regionen (Flandern, Wallonie und Brüssel) sowie gleichzeitig in drei Gemeinschaften unterteilt (eine flämische, frankophone sowie eine deutschsprachige). Die Region Flandern ist dabei deckungsgleich mit der flämischen Gemeinschaft. Die Region Wallonie fällt zum Großteil mit der frankophonen Gemeinschaft zusammen, ein weiterer Teil jedoch mit der deutschsprachigen Gemeinschaft. Die Region Brüssel hingegen ist offiziell zweisprachig, fällt also sowohl in den Zuständigkeitsbereich der flämischen als auch der frankophonen Gemeinschaft. Sowohl die Gemeinschaften als auch die Regionen unterhalten jeweils eigene Parlamente und Regierungsapparate. Eine Ausnahme bildet jedoch Flandern: hier fallen Exekutive und Legislative von Region und Gemeinschaft zusammen.
Auch die Parteienlandschaft ist entlang der Grenzen von Regionen und Gemeinschaften gespalten. Es gibt in Belgien keine nationalen Parteien. Quer über das politische Spektrum ist der Diskurs regional organisiert. Es sind unterschiedliche linke, grüne, sozialdemokratische, liberale, konservative und rechte Parteien, die jeweils in den Regionen und Gemeinschaften antreten. Oft kollaborieren die Parteien des jeweiligen Spektrums als „Schwesterparteien“. Sie arbeiten jedoch grundsätzlich eigenständig mit unterschiedlichen Programmen. Wählen lassen sie sich nur in ihrer jeweiligen Region oder Gemeinschaft.
Auf diese Weise, schreibt Blommaert, fehle es in Belgien an einem nationalen politischen Diskurs. Für Politiker*innen sei es aufgrund der föderalen Parteienstruktur kaum von Interesse, sich in überregionale Fragestellungen einzubringen. So entwickelten sich Politiker*innen immer mehr zu alleinigen Fürsprecher*innen regionaler und sprachgemeinschaftlicher Anliegen und polarisierten den Diskurs immer weiter. Tatsächlich ist in Belgien seit Jahren eine Verschärfung zu verzeichnen. Insbesondere in Flandern dominieren zunehmend separatistische Kräfte, die eine Unabhängigkeit der flämischsprachigen Region fordern. Bei den Parlamentswahlen 2024 könnte die rechtsextreme Partei Vlaams Belang stärkste Kraft werden.
Blommaert warnt jedoch davor, Sprachkonflikte in Belgien zu essentialisieren. Viele Konflikte verliefen zwar entlang von Sprachgrenzen, seien jedoch stark von sozio-ökonomischen Faktoren geprägt. Sprache eigne sich als ein stellvertretendes Objekt, an dem Kämpfe um wirtschaftliche und politische Macht symbolisiert werden könnten. Sprache allein könne jedoch nicht als Treiber der Entwicklung angesetzt werden. Dennoch interpretiert Blommaert die Geschichte Belgiens des 20. Jahrhunderts auch als eine Geschichte der sprachideologischen Verschiebungen. Dabei, so die These, sei ein jakobinisches Sprachverständnis seit den 1960er Jahren zunehmend einem herderischen Verständnis von Sprache und Nation gewichen.
Den Jakobinismus versteht Blommaert dabei als ein Denken, in dem Sprache vornehmlich als Mittel zur Teilhabe von Bürger*innen am öffentlichen Leben dient. Demgegenüber stellt er ein herderisches Verständnis, nach dem eine Sprache die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk und einem bestimmten Territorium markiere. Das Model Herders liefere eine ideologische Blaupause für den modernen Nationalstaat, der das öffentliche Leben entlang einer einzigen, standardisierten Nationalsprache organisiere.
Der flämische Nationalismus, beschreibt Blommaert, habe im 19. Jahrhundert zunächst im Zeichen eines jakobinischen Verständnisses um politische Teilhabe in einem frankophon dominierten Staat gekämpft. Spätestens als mit der Gebietsreform von 1963 erstmals Sprachgrenzen in Belgien definiert wurden, habe die Idee der Territorialität das Denken jedoch verändert. Das Ziel des flämischen Nationalismus sei nicht mehr ein multilinguales Belgien gewesen – sondern ein monolinguales Flandern. Unter dem Slogan „In Flandern flämisch!“ sei es darum gegangen, Niederländisch als einzige Sprache durchzusetzen. Und zwar nicht nur im öffentlichen Raum, sondern, nach Blommaert typisch für eine herderische Ideologie, auch im Privaten. In einer Gegenreaktion seien schließlich auch frankophone Radikale diesem Denken gefolgt.
Vor diesem Hintergrund charakterisiert Blommaert die jüngere Geschichte Belgiens als eine Entwicklung von einem einsprachig-frankophonen hin zu einem offiziell zweisprachigen Staat – und schließlich die Teilung dieses Staates in monolinguale Regionen. „Zweisprachigkeit, einst das wesentliche Charakteristikum von Belgien und den Belgiern“, schreibt Blommaert, „ist verschwunden.“