Zivilnation aus dem Geist des Krieges

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Andrew Wilson2023
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Zivilnation aus dem Geist des Krieges

»Ukraine at war. Baseline identity and social construction«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 16.01.2024

te.ma DOI 10.57964/04wh-s458

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 16.01.2024
te.ma DOI 10.57964/04wh-s458

Revolution und Krieg haben in der Ukraine ein nationales Bewusstsein entstehen lassen. Dieses sei, so der Londoner Professor für Ukraine-Studien Andrew Wilson, demokratisch und pro-europäisch. Gleichzeitig hätte der russische Angriffskrieg gegen das Land in der ukrainischen Zivilgesellschaft ein tiefes Gefühl der Gegnerschaft zu Russland geschaffen. Die Aussicht auf Versöhnung werde dies auf Jahrzehnte schmälern.

Kriege sind zerstörerische Motoren der Geschichte. Neben unendlichem Leid lösen sie oft Entwicklungen aus, die die Kriegführenden ursprünglich nicht beabsichtigt hatten. Russland führt bereits seit 2014 Krieg gegen die Ukraine. Was Wladimir Putin immer verhindern wollte, ist seitdem eingetreten: In einem der größten Länder Europas hat sich ein ziviles, genuin ukrainisches Nationalgefühl entwickelt, so der britische Historiker und Politikwissenschaftler Andrew Wilson. Er zeigt in seinem Paper, dass das für das postsowjetische Land etwas historisch Neues ist und dem imperial aufgeladenen Nationalismus Russlands gegenübersteht.

Wilson arbeitet heraus, inwiefern man über die vergangenen fünf Jahrhunderte von einer ukrainischen Nation sprechen kann.1 Ein nationales ukrainisches Bewusstsein konnte sich während der siebzigjährigen Sowjetzeit lediglich in einigen Regionen herausbilden, vor allem in der Westukraine.2 Die sowjetische Politik habe zwar zu einer sozialen und ökonomischen Modernisierung der Ukraine geführt. Eine eigene nationale und politische Identität bildete sich jedoch nicht heraus. Und auch nach der Unabhängigkeit 1991 hätten in der Ukraine uneindeutige regionale und sprachliche Identitäten vorgeherrscht. Die von der Kreml-Propaganda behauptete identitäre und politische Teilung in Russen und Ukrainer habe es so nicht gegeben.

Durch die Orange Revolution 2004, den Euromaidan sowie Russlands Krieg gegen die Ukraine seit 2014 sei es jedoch zu einem Identitätswandel gekommen. Die Notwendigkeit der ukrainischen Bevölkerung, untereinander sozial, wirtschaftlich, humanitär und militärisch zu kooperieren, habe eine „zivile und politische Nation“ entstehen lassen, so Wilson.3 Dass es mit Russland einen eindeutigen Aggressor und Verursacher des kollektiven Leids gebe, führe dazu, dass sich dieses neue Nationalbewusstsein wie im Zeitraffer herausbilde.

Die von Wilson beschriebene Verbindung von Krieg und sich konsolidierender Zivilgesellschaft besteht auch in Russland – wenn auch unter vollkommen anderen Vorzeichen. Denn nach Kriegsbeginn haben sich zahlreiche „zivilgesellschaftliche“ Initiativen in Russland gebildet, die sich entweder freiwillig oder mit staatlicher Hilfe in den Dienst der euphemistisch „militärische Spezialoperation“ genannten Invasion gestellt haben. Mit ihrer Unterstützung der neo-imperialen Kriegsanstrengungen des Kreml stehen sie der gen Europa ausgerichteten Zivilgesellschaft in der Ukraine diametral gegenüber.

Doch Wilson sieht auch eine dunkle Seite der neuen ukrainischen Zivilnation. Diese baue ihre Identität vermehrt auf einer traditionalistischen Mythologie der nationalen Ursprünge der Ukraine auf. Weil man in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Russland möglichst viele Argumente für ukrainische Eigenstaatlichkeit ins Feld führen wolle, greife man weit in die Vergangenheit zurück – und konstruiere eine Kontinuität, die es in solch eindeutiger Form nicht gegeben habe.4 Die Entstehung der modernen ukrainischen Nation werde auf einige wenige historische Schlüsselmomente reduziert, etwa den Euromaidan 2014. Dies verbinde sich Wilson zufolge mit einer kulturellen „Hyper-Europäisierung“: So sprach die Rada, das ukrainische Parlament, 2021 von einer „zivilisatorischen Entscheidung“ für Europa. Diese beinhalte eine seit 2014 immer tiefer sitzende Ablehnung von allem Russischen, das wenig überraschend mit Imperialismus und Autoritarismus gleichgesetzt werde. Die tief ins Lokale reichende Dekommunisierung der Ukraine ist wohl das eindringlichste Beispiel hierfür. Die Wahl für Europa sei eine Wahl für Demokratie und Frieden und gegen die autoritäre und kriegerische Vergangenheit.

Russland ist, so schlussfolgert Wilson, nicht nur der Treiber des ukrainischen Nation-Building, es ist auch die abzulehnende Negativfolie der durch den Krieg noch einmal stärker gewordenen ukrainischen Zivilgesellschaft. Einerseits verläuft diese Entwicklung gegen den globalen Trend: Studien zeigen, dass weltweit immer mehr Staaten gegen die Entstehung starker zivilgesellschaftlicher Akteure vorgehen.5 Andererseits wird die tief ins kollektive Gedächtnis eingeschriebene Gegnerschaft zu Russland eine Versöhnung der beiden Gesellschaften auf Jahrzehnte erschweren. Denn die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Ukraine und Russland bedingen sich gegenseitig: Je europäischer und demokratischer sich die ukrainische Zivilgesellschaft gibt, desto vehementer werden nationalistische Stimmen in Russland vom Staat fordern, gegen die „Verwestlichung“ der Ukraine vorzugehen. Für die europäische Politik bedeutet das, dass zwar die Chancen für eine Westbindung der Ukraine recht hoch sind, einer potenziellen Versöhnung zwischen der Ukraine und Russland jedoch auf Generationen große Hürden entgegenstehen.

Derselbe Krieg hat demnach zwei ganz unterschiedliche Arten von Nationalbewusstsein „produziert“: Der ukrainischen Zivilnation steht der imperiale Nationalismus großer Teile der russischen Politik und Gesellschaft gegenüber.6 Russlands autokratischer Herrscher hat also nicht nur einen Keil zwischen zwei Staaten getrieben, sondern auch Gesellschaften voneinander entfremdet, die vor Kriegsbeginn eng miteinander verflochten waren.

Fußnoten
6

Siehe auch Serhii Plokhy: The Gates of Europe. A History of Ukraine. Penguin Books, UK, USA, Canada, Ireland, Australia, India, New Zealand, South Africa 2016, ISBN 9780141980614.

Yuri Slezkine: The USSR as a Communal Apartment, or How a Socialist State Promoted Ethnic Particularism. In: Slavic Review. Band 53, Nr. 2, 1994, S. 414–452. https://doi.org/10.2307/2501300.

Natalia Mamonova: Food sovereignty and solidarity initiatives in rural Ukraine during the war. In: The Journal of Peasant Studies. Band 50, Nr. 1, 2023, S. 47–66. https://doi.org/10.1080/03066150.2022.2143351.

Diese Konstruktion einer kohärenten, kontinuierlichen und einheitlichen Nation in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschreibt Benedict Anderson in seinem Standardwerk der Nationalismus-Forschung: Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Verso, London 2006, ISBN 0860915468.

Suparna Chaudhry: The Assault on Civil Society. Explaining State Crackdown on NGOs. In: International Organization. Band 76, Nr. 3, 2022, S. 549–590. https://doi.org/10.1017/S0020818321000473.

Alexander Maxwell: Popular and Scholarly Primordialism. The Politics of Ukrainian History during Russia's 2022 Invasion of Ukraine. In: Journal of Nationalism, Memory & Language Politics. Band 16, Nr. 2, 2022, S. 152–171. https://doi.org/10.2478/jnmlp-2022-0008.

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