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Nach den Imperien ist vor dem Imperium

Re-Paper
Timothy Garton Ash2023
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Nach den Imperien ist vor dem Imperium

»Postimperial Empire. How the War in Ukraine Is Transforming Europe«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 27.06.2023

te.ma DOI 10.57964/qr45-an30

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 27.06.2023
te.ma DOI 10.57964/qr45-an30

Mit dem fehlgeschlagenen Versuch Russlands, die Ukraine zu unterwerfen, sei Europa in eine postimperiale Phase eingetreten, erklärt der Oxford-Professor Timothy Garton Ash. Um dem russischen Imperialismus weiterhin Einhalt zu gebieten und die europäische Friedensordnung zu verteidigen, müsse die politische Verfassung der EU einen paradoxen Schritt gehen – und selbst imperiale Charakteristika annehmen.

Timothy Garton Ash betrachtet in seinem Essay für die US-amerikanische Flaggschiff-Zeitschrift Foreign Affairs die europäische Geschichte als verschränkten Aufstieg und Niedergang von Imperien. Zum einen werde aus dieser Perspektive die russische Aggression gegen die Ukraine seit 2014 verständlich: Imperien verschwänden nicht einfach, sondern würden oft in langen und blutigen Auseinandersetzungen ihrem letztendlichen Zerfall entgegengehen – nicht selten unterbrochen von Versuchen der imperialen Wiederbelebung.1

Russlands Kriege, beginnend mit der gewaltvollen Herauslösung von Transnistrien aus Moldau 1992, bis zur vollumfänglichen Invasion der Ukraine 30 Jahre später, bestätigten diesen Trend. Europas eigene Erfahrungen mit den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre sind ein weiteres Beispiel, dem mit der friedlichen Teilung der Tschechoslowakei und damit dem finalen Ende der letzten Reste des Habsburger-Imperiums nur ein unblutiger Zerfallsprozess gegenübersteht.

Gegenüber der EU war Russlands Politik der Re-Imperialisierung Garton Ash zufolge lange Zeit erfolgreich. Mit Wladimir Putins Wutrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und dem Einmarsch in Georgien 2008 sei ein 35-jähriger Expansionsprozess der EU und Nato – von sechs auf 27 bzw. 15 auf 26 Mitglieder – zu Ende gegangen. Gleichzeitig habe die EU ihre eigene Machtprojektion in Form der Beitrittsperspektive massiv vernachlässigt. Die Länder des Westbalkans etwa würden seit über 20 Jahren darauf warten, Teil der EU zu werden.2

Vor diesem Hintergrund aus europäischer Imperialgeschichte im Niedergang und neuen Versuchen der Re-Imperialisierung sieht Garton Ash den russischen Angriff auf die Ukraine als eine Zäsur. Zum einen habe sie klare Beitrittsperspektiven für die Ukraine und Moldau sowie möglicherweise auch für den Westbalkan und Georgien geschaffen. Auch sei nun langfristig eine Nato-Mitgliedschaft für diese Länder denkbar – eine Position, die vor dem Krieg massiven Widerstand erfahren hatte.

Auch intern sieht Garton Ash die EU durch den Krieg im Osten Europas am Scheideweg und nimmt damit implizit eine Idee der klassischen Staatsbildungsliteratur auf, die Krieg als maßgeblichen Motor der Entwicklung staatlicher Strukturen betrachtet.3 Der Impuls des Kriegs könne und müsse zu einer Zentralisierung und Verbesserung der Steuerungsfähigkeit in der EU führen, wolle man den zahlreichen externen Herausforderungen begegnen. Bundeskanzler Olaf Scholz’ Prager Rede im August 2022 sieht Garton Ash als ein Zeichen hin zu einer sich nach außen wieder erweiternden und nach innen reformierenden EU. In seiner Rede hatte sich Scholz für zukünftige Erweiterungen der Union sowie interne Reformen mit dem Ziel schnellerer Entscheidungsfähigkeit ausgesprochen.

In der Doppelbewegung aus Konsolidierung und Erweiterung bestehe nun auch die Paradoxie des nächsten notwendigen Integrationssprungs: Zentralisiertere Entscheidungen im Inneren und Expansion nach außen würden bedeuten, dass die EU im postimperialen Zeitalter selbst imperiale Züge annehmen müsse. Laut Garton Ash handele es sich hierbei allerdings um eine vollkommen neue, demokratische, voluntaristische und von den Lasten der Vergangenheit lernende Imperialität. Das Lernen aus der Vergangenheit sei zwingend notwendig, denn einige Mitgliedsstaaten der EU blickten selbst auf eine lange Kolonialgeschichte zurück. Diese reichte bis in die Gründungsphase der EU-Vorgängerorganisationen in den 1950er Jahren, als die europäischen Kolonien, beispielsweise Frankreichs oder Portugals, als feste Bestandteile des europäischen Projekts mitgedacht wurden.4

Garton Ashs Intervention zielt auf ein konzeptionelles und letztendlich auch politisches Problem der EU: Mit welchen Begriffen lässt sich das in den vergangenen 70 Jahren entstandene Institutionengefüge beschreiben (und mit welchen Politiken reformieren)? Und auf welchen Zustand dieses Gebildes arbeiten sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Union selbst hin? Garton Ash zufolge könne der Gegensatz nicht jener zwischen „guter Integration“ auf europäischer und „schlechtem Imperium“ auf russischer Seite sein, wie es etwa der Historiker Timothy Snyder beschrieben hat.5 Stattdessen sei es lohnenswert, über die EU selbst als Imperium nachzudenken – ein Vorschlag, der bereits in den 2000er Jahren von einigen Autor*innen gemacht wurde. Der Politikwissenschaftler Jan Zielonka etwa hatte in seinem 2007 erschienenen Buch Europe as Empire: The Nature of the Enlarged European Union argumentiert, die EU müsse als ein „neo-mediävistisches Imperium mit einem polyzentrischen Regierungssystem“ verstanden werden.6

Neben der Idee der EU als einer supranationalen Organisation oder eines unvollständigen Staats bietet Garton Ash somit eine weitere, provokativere Perspektive an: Die EU als wohlwollendes, „normatives“ Imperium, das nicht auf territoriale Expansion per se, sondern Demokratie, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit ziele.7 Welches dieser Konzepte den Entwicklungsweg der EU besser fassen kann, wird auch von den Weichenstellungen im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine abhängen.

Fußnoten
7

Alexander J. Motyl: Why Empires Reemerge. Imperial Collapse and Imperial Revival in Comparative Perspective. In: Comparative Politics. Band 31, Nr. 2, 1999, S. 127–145. https://doi.org/10.2307/422141

Ritsa Panagiotou: The Western Balkans between Russia and the European Union. Perceptions, reality, and impact on enlargement. In: Journal of Contemporary European Studies. Band 29, Nr. 2, 2021, S. 219–233. 10.1080/14782804.2020.1798218

Charles Tilly: War Making and State Making as Organized Crime. In: Peter B. Evans, Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol (Hrsg.). Bringing the State Back In. Cambridge University Press, Cambridge 1985, ISBN0521313139, S. 169–191.

Peo Hansen und Stefan Jonsson: Eurafrica. The Untold History of European Integration and Colonialism. Bloomsbury Academic, London, Oxford, New York, New Delhi, Sydney 2015, ISBN 9781780930008.

Timothy Snyder: The Road to Unfreedom. Russia, Europe, America. Tim Duggan Books, New York, NY 2018, ISBN 9780525574460.

Jan Zielonka: Europe as Empire. The Nature of the Enlarged European Union. Oxford University Press, Oxford 2007, ISBN 9780199231867.

Raffaella A. Del Sarto: Normative Empire Europe. The European Union, its Borderlands, and the ‘Arab Spring’. In: JCMS: Journal of Common Market Studies. Band 54, Nr. 2 2016, S. 215–232. https://doi.org/10.1111/jcms.12282

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