Timothy Garton Ash betrachtet in seinem Essay für die US-amerikanische Flaggschiff-Zeitschrift Foreign Affairs die europäische Geschichte als verschränkten Aufstieg und Niedergang von Imperien. Zum einen werde aus dieser Perspektive die
Russlands Kriege, beginnend mit der gewaltvollen Herauslösung von Transnistrien aus Moldau 1992, bis zur vollumfänglichen Invasion der Ukraine 30 Jahre später, bestätigten diesen Trend. Europas eigene Erfahrungen mit den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre sind ein weiteres Beispiel, dem mit der friedlichen Teilung der Tschechoslowakei und damit dem finalen Ende der letzten Reste des Habsburger-Imperiums nur ein unblutiger Zerfallsprozess gegenübersteht.
Gegenüber der EU war Russlands Politik der Re-Imperialisierung Garton Ash zufolge lange Zeit erfolgreich. Mit Wladimir
Vor diesem Hintergrund aus europäischer Imperialgeschichte im Niedergang und neuen Versuchen der Re-Imperialisierung sieht Garton Ash den russischen Angriff auf die Ukraine als eine Zäsur. Zum einen habe sie klare Beitrittsperspektiven für die Ukraine und Moldau sowie möglicherweise auch für den Westbalkan und Georgien geschaffen. Auch sei nun langfristig eine Nato-Mitgliedschaft für diese Länder denkbar – eine Position, die vor dem Krieg massiven Widerstand erfahren hatte.
Auch intern sieht Garton Ash die EU durch den Krieg im Osten Europas am Scheideweg und nimmt damit implizit eine Idee der klassischen Staatsbildungsliteratur auf, die Krieg als maßgeblichen Motor der Entwicklung staatlicher Strukturen betrachtet.
In der Doppelbewegung aus Konsolidierung und Erweiterung bestehe nun auch die Paradoxie des nächsten notwendigen Integrationssprungs: Zentralisiertere Entscheidungen im Inneren und Expansion nach außen würden bedeuten, dass die EU im postimperialen Zeitalter selbst imperiale Züge annehmen müsse. Laut Garton Ash handele es sich hierbei allerdings um eine vollkommen neue, demokratische, voluntaristische und von den Lasten der Vergangenheit lernende Imperialität. Das Lernen aus der Vergangenheit sei zwingend notwendig, denn einige Mitgliedsstaaten der EU blickten selbst auf eine lange Kolonialgeschichte zurück. Diese reichte bis in die Gründungsphase der EU-Vorgängerorganisationen in den 1950er Jahren, als die europäischen Kolonien, beispielsweise Frankreichs oder Portugals, als feste Bestandteile des europäischen Projekts mitgedacht wurden.
Garton Ashs Intervention zielt auf ein konzeptionelles und letztendlich auch politisches Problem der EU: Mit welchen Begriffen lässt sich das in den vergangenen 70 Jahren entstandene Institutionengefüge beschreiben (und mit welchen Politiken reformieren)? Und auf welchen Zustand dieses Gebildes arbeiten sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Union selbst hin? Garton Ash zufolge könne der Gegensatz nicht jener zwischen „guter Integration“ auf europäischer und „schlechtem Imperium“ auf russischer Seite sein, wie es etwa der Historiker Timothy Snyder beschrieben hat.
Neben der Idee der EU als einer supranationalen Organisation oder eines unvollständigen Staats bietet Garton Ash somit eine weitere, provokativere Perspektive an: Die EU als wohlwollendes, „normatives“ Imperium, das nicht auf territoriale Expansion per se, sondern Demokratie, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit ziele.