Die Diskussion um den Zustand Europas im Lichte von Pandemie, Krieg und Populismus durchzieht eine Kontroverse: Hat die EU die Kraft und die Mittel, aus den politischen und wirtschaftlichen Krisen der Zeit gestärkt hervorzugehen und damit als politisches Projekt weiterzubestehen?
Während prominente Autoren wie Luuk van Middelaar eine Union sehen, die sich durch immer besseres Improvisieren bei der Entscheidungsfindung und institutionelles Lernen in den Krisen der Gegenwart zu einem handlungsfähigen Akteur in der Weltpolitik entwickelt, lautet die Botschaft des Politikwissenschaftlers Stefan Auer anders: Das demokratische Fundament Europas habe begonnen zu erodieren. Der tiefere Grund sei in den von der EU verfolgten Lösungen für die Herausforderungen der Zeit zu suchen. Denn diese würden die Rolle und Funktionsfähigkeit von demokratisch legitimierten Nationalstaaten abwerten und damit dem „demokratischen Impuls“ des europäischen Einigungsprozesses zuwiderlaufen.
Anschauungsmaterial liefert Auers empirische tour de force durch Europas langes Krisenjahrzehnt. Mit der globalen Wirtschafts-, Euro- und Flüchtlingskrise, dem Brexit, Russlands Invasion der Ukraine und einem ungebrochenen „
Hinter Auers historischer und sozialwissenschaftlicher Frage nach den Dysfunktionalitäten der EU steht letztendlich ein Politikum: Wie verhält es sich mit der Souveränität, einem Konzept, das im 21. Jahrhundert ein – zumindest aus liberaler Perspektive – unerwartetes Comeback feiert?
In der Politikwissenschaft wird geteilte Souveränität als wichtiger Bestandteil der sog. Global Governance diskutiert, also einem politischen und rechtlichen Rahmen, der von verschiedenen Institutionen, Organisationen und gesellschaftlichen Gruppen getragen wird und auf die Lösung globaler Probleme zielt.
Die Kontroverse darüber, auf welcher Ebene maßgeblich politische Souveränität in Europa zu verorten ist, hat eine praktische Dimension: Sollen mehr Entscheidungen lokal, regional, national oder doch supranational getroffen werden? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen diesen Ebenen, etwa zwischen den energiepolitischen Entscheidungen der EU-Kommission und den Kommunen, die die beschlossenen Maßnahmen umsetzen müssen? Derlei Fragen sind hochpolitisch, geht es doch den betroffenen Akteuren nicht nur um „gute und stabile Lösungen“, sondern auch um die Verteidigung ihrer wirtschaftlichen und politischen Ressourcen. Das Ergebnis, wie auch Auer betont, sind konkurrierende Souveränitätsvorstellungen, die von der EU als einem wohlwollenden und demokratischen Imperium bis hin zum Rückzug ins Nationale oder Lokale reichen.
Im Hinblick auf die Zukunft des europäischen Projekts ist Auer pessimistisch: Russlands Krieg gegen die Ukraine habe die Risse in der EU noch einmal verstärkt – zwischen supranationalen Technokraten und Vertretern territorial begrenzter Demokratien, zwischen Mittel- und Osteuropa sowie zwischen dem politischen Anspruch der EU in ihrer Nachbarschaft und den Möglichkeiten seiner Umsetzung. Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 werden zeigen, ob sein Pessimismus angebracht ist.