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Ende der Illusionen. Aufstieg und Fall der russischen Zivilgesellschaft

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Igor Gretskiy2023
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Ende der Illusionen. Aufstieg und Fall der russischen Zivilgesellschaft

»Is There Life in the Desert? Russian Civil Society After the Full-Scale Invasion of Ukraine«

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Intro

Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 30.01.2024

te.ma DOI 10.57964/4sad-xe33

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 30.01.2024
te.ma DOI 10.57964/4sad-xe33

Europas Verhältnis zur russischen Zivilgesellschaft gleicht einer enttäuschten Liebe. Noch in den 1990er Jahren wurden mit ihr große Hoffnungen auf einen demokratischen Wandel in Russland verbunden. Spätestens mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine wird jedoch klar: Der Widerstand gegen die Kriegspläne des Kreml war zu schwach, die staatliche Repression zu massiv. Was von unabhängigen NGOs noch übrig ist und warum sich inzwischen eine neue, staatstreue „Zivilgesellschaft“ formiert hat, beleuchtet der Politikwissenschaftler Igor Gretskiy.

Der russische Überfall auf die Ukraine am 22. Februar 2022 steht nicht nur für eine internationale Zäsur. Auch in Russland selbst hat er eine neue Phase der Repression eingeleitet. Die meisten kritischen Stimmen sitzen mittlerweile im Gefängnis, befinden sich im inneren Exil oder haben das Land verlassen. Damit enden auch lang gehegte Hoffnungen, die Europas Politik und Gesellschaft seit dem Untergang der Sowjetunion auf die russische Zivilgesellschaft projiziert hatten. Igor Gretskiys Studie zum Zustand unabhängiger russischer NGOs nach Kriegsbeginn zeichnet ein deprimierendes Bild einer fragmentierten Zivilgesellschaft in Auflösung. Sie bestätigt die Befürchtung Europas, dass mit zivilgesellschaftlichem Druck auf den Kreml nicht mehr zu rechnen ist. Letzterer hat vielmehr eine neue Form von staatstreuer Zivilgesellschaft geschaffen, mit deren Hilfe die eigene Herrschaft stabilisiert werden soll.1

Gretskiy führte dazu im Laufe des Jahres 2022 zahlreiche Interviews mit verschiedenen NGO-Vertretern in mehreren russischen Regionen, nicht nur den großen Ballungszentren Moskau und St. Petersburg. Sein Ergebnis: Von der unabhängigen, kritischen Zivilgesellschaft war bereits vor Kriegsbeginn so gut wie nichts mehr übrig. Jene Gruppen, die sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben, würden sich im „Überlebensmodus“ befinden und sich so bewegen, dass sie mit dem Staat möglichst nicht in Berührung kommen. Dieser wiederum habe mit einer Reihe von Gesetzen, die sich gegen „ausländische Agenten“ richten, Instrumente geschaffen, um willkürlich gegen alles vorzugehen, was von der staatlichen Politik abweicht.

Am weitreichendsten dürfte jedoch eine andere Entwicklung sein, die Gretskiy ebenfalls aufgreift: Der russische Staat habe unter Wladimir Putin erfolgreich daran gearbeitet, eine staatlich gemanagte Zivilgesellschaft aufzubauen. Gretskiy nennt die daraus entstandenen Gruppen government-organised non-governmental organisations (GONGOs). Diese habe mittlerweile die demokratisch und westlich orientierte Zivilgesellschaft verdrängt und erlaube es den staatlichen Ideologen zu behaupten, dass es doch eine dynamische Zivilgesellschaft in Russland gebe.2 Ganz falsch ist das nicht, wie etwa die Journalisten Gesine Dornblüth und Thomas Frank in ihren dichten Beschreibungen der russischen Gesellschaft zeigen: Zwar handelt es sich bei nationalistischen Jugendgruppen, Militärsportvereinen und patriotischen Mutterbünden oft um staatliche Gründungen. Diese genössen aber durchaus die Legitimität weiter Teile der Bevölkerung und fänden großen Zulauf, auch ganz ohne staatlichen Zwang.3 Diese staatlich durchdrungene, anti-demokratische „Zivilgesellschaft“ ko-konstruiere somit den russischen Autoritarismus im Zusammenspiel mit Staat und Behörden, wie es die Politikwissenschaftler Samuel Greene und Graeme Robertson in ihren Arbeiten beschreiben.4

Und auch das, was jenseits der GONGOs von der unabhängigen russischen Zivilgesellschaft übriggeblieben ist, liegt quer zu westlichen Vorstellungen einer strikt auf Demokratie und Menschenrechte ausgerichteten Zivilgesellschaft.5 Am Beispiel des Nordkaukasus könne man beobachten, so Gretskiy, dass zwar auch lokale NGOs den Krieg gegen die Ukraine ablehnten – nicht zuletzt deshalb, weil der Blutzoll vor allem auf diese ärmeren Regionen fällt. Allerdings zögen sie sich vor allem aufs Lokale zurück. Beispielsweise würde versucht, in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Diasporas die lokale Kultur und indigene Sprachen zu fördern. Politisches Engagement hingegen trete deutlich in den Hintergrund.

Aus europäischer Perspektive ergeben sich aus dem Zustand der russischen Zivilgesellschaft vor allem zwei Lehren. Erstens fällt der Unterschied zur Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft seit 2013/14 auf. In der Ukraine hat sich eine demokratische und nach Europa orientierte Zivilgesellschaft entwickelt, die durch den russischen Angriffskrieg noch stärker zusammengewachsen ist. Was bis in die 1990er Jahre noch parallel verlaufende gesellschaftliche Selbstfindungsprozesse waren, hat sich seit den 2000ern durch Revolution, Konflikt und letztendlich Krieg in zwei komplett unterschiedliche Zivilgesellschaften auseinanderentwickelt. Damit fehlt Europa, zweitens, ein starker zivilgesellschaftlicher Partner, aus dem ein Russland der Zukunft erwachsen könnte. Zwar gibt es eine russische Diaspora, deren Mitglieder aus dem Ausland versuchen, Einfluss auf ihre Landsleute und die Politik des Kreml zu nehmen. Doch diese prallt an der Selbstisolierung des Kreml ab und kann die russische Gesellschaft nicht erreichen. 

Die unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Entwicklungen in der Ukraine und Russland verändern also die Koordinaten der EU-Politik im östlichen Europa. Galt lange Russland als der maßgebliche Partner, zu dem darüber hinaus enge gesellschaftliche Verbindungen bestanden, hat diese Rolle nun die Ukraine übernommen. Die Entfremdung Europas gegenüber Russland ist also auf Dauer gestellt: Sie betrifft nicht nur die große Politik, sondern auch die zwischengesellschaftlichen Beziehungen.

Fußnoten
5

Elizabeth Plantan: Not All NGOs are Treated Equally. Selectivity in Civil Society Management in China and Russia. In: Comparative Politics. Band 54, Nr. 3, 2022, S. 501–524. https://doi.org/10.5129/001041522X16258376563887.

Julie Hemment: Occupy Youth! State-Mobilized Movements in the Putin Era (or, What Was Nashi and What Comes Next?). In: Grzegorz Ekiert, Elizabeth J. Perry und Xiaojun Yan (Hrsg.): Ruling by Other Means. State-Mobilized Movements. Cambridge University Press, Cambridge, New York, Port Melbourne, New Delhi, Singapore 2020, ISBN 9781108784146, S. 166–192.

Gesine Dornblüth und Thomas Franke: Jenseits von Putin. Russlands toxische Gesellschaft. Verlag Herder, Freiburg, Basel, Wien 2023, ISBN 9783451829895.

Samuel A. Greene und Graeme B. Robertson: Putin v. the People. The Perilous Politics of a Divided Russia. Yale University Press, New Haven, London 2019, ISBN 0300238398.

Eine Übersicht der Forschung zu zivilgesellschaftlichen NGOs findet sich bei Aynsley Kellow und Hannah Murphy-Gregory (Hrsg.): Handbook of Research on NGOs. Edward Elgar, Cheltenham, UK 2018, ISBN 1785361686.

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Fällt mir schwer, dem Text einen zustimmenden Kudos zu geben, aber leider ist es alles so und deckt sich mit meiner Erfahrung und der unzähliger anderer, ja.

Ich sehe allerdings die westliche Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft, solange sie noch in der unmittelbar postsowjetischen Form existiert hat, auch zunehmend kritisch, jedenfalls retrospektiv. Man muss sehr aufpassen, welche Symboliken man mit derartigen eigentlich harmlos und gut gemeinten Engagements erschafft. Die Dinge weniger zwingen zu wollen kann langfristig weiter führen.

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