Hinter dem Gendern steht eine Sprachkritik. Sie will darauf aufmerksam machen, dass etablierte Normen wie das generische Maskulinum Frauen und nicht-binäre Menschen unsichtbar machen. Aber es gibt noch weitere Gruppen, denen unsere Schreib- und Sprechgewohnheiten Probleme bereiten: Analphabet*innen, Seh- und Hörbehinderten, Menschen mit Lernschwierigkeiten und Immigrant*innen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen bleibt eine kommunikative Teilhabe am Alltag verwehrt, da standardsprachliche Texte für sie nicht verständlich sind. Für diese Gruppen gibt es sprachliche Ansätze, die über die Verminderung von Komplexität einen Zugang bieten sollen. Besonders verbreitet ist die Leichte Sprache, deren Regelwerk in Deutschland seit 2006 vom Netzwerk Leichte Sprache betreut wird.
Gendergerechte und Leichte Sprache stehen also beide im Zeichen der Inklusion – doch scheinbar mit widerstrebenden Mitteln: Wer gendert, erhöht die Textkomplexität, wer Leichte Sprache verwendet, muss sie senken. Leitfäden zur Leichten Sprache stehen gendergerechten Formen unterschiedlich gegenüber: von Abraten über Ignorieren bis Zustimmung lässt sich alles finden. Gegner*innen des Genderns hingegen berufen sich zumeist auf das Argument der Unvereinbarkeit. Dabei gibt es bisher keine wissenschaftliche Forschung zu den Möglichkeiten, barrierefrei zu gendern. Was wir durch vereinzelte Studien aber bereits wissen, ist, dass das gedankliche Hinzufügen von Unbenanntem – wie Frauen und nicht-binären Menschen beim generischen Maskulinum – häufig fehlschlägt.
Kristina Bedijs setzt genau an dieser Stelle an und betrachtet die konkreten strukturellen Anforderungen, die beide „Seiten“ mitbringen. Sie stellt die Gegenfrage, inwieweit von Menschen aus den Zielgruppen für Leichte Sprache erwartet werden kann, ein Maskulinum generisch zu interpretieren. Die doppelte Lesart ‚männlich vs. generisch‘ erzeugt nämlich eine Ambivalenz, die gegen die Grundprinzipien der Leichten Sprache verstoße, so Bedijs: „ein ‚mitgemeint‘ kann es in der Leichten Sprache nicht geben“.
Sie untersucht daher die gängigsten Strategien zum Gendern auf ihre Umsetzbarkeit in Leichter Sprache. Viele fallen aus verschiedenen Gründen raus: Paarformen („Lehrerinnen und Lehrer“) sind etwa zu lang und bleiben binär. Neutralisierungen („Lehrkraft“ statt „Lehrer“, „Publikum“ statt „Zuschauer“) funktionieren dagegen gut, aber nur wenn sie gängig genug sind. Bei Suffixformen wie dem Sternchen („Lehrer*innen“) wird häufig angeführt, Sonderzeichen seien ein Problem sowohl beim Lesen als auch beim Vorlesen durch Screenreader. Bedijs zieht hier eine Parallele zum €-Zeichen: Auch dieses ist mit seinen 20 Jahren verhältnismäßig „neu“ und dennoch fester Teil der Sprachrealität von Nutzer*innen der Leichten Sprache. Vorlesegeräte können es mittlerweile problemlos aussprechen und eine technische Anpassung an einen typographischen Gender-Marker sei genauso möglich. Ein Zeichen kann per Disclaimer am Textanfang eingeführt werden, zum Beispiel mit dem Mediopunkt, der in der Leichten Sprache als Lesehilfe längere Wörter in kleine Einheiten unterteilt („Lehrer·zimmer·tür“).
Generell ist Leichte Sprache kein Ersatz für standardsprachliche Texte, sondern eine ergänzende Hilfestellung: Nutzer*innen sehen meistens beide Versionen. Hier unterscheiden sich barrierefreie und gendergerechte Sprache, denn letztere möchte eine Alternative zu den generischen Maskulina bieten. Die Zielgruppen der Leichten Sprache sind deswegen Formen wie z.B. dem Genderstern ohnehin ausgesetzt, prägen diese unseren Alltag doch immer stärker. Wer also „vorsorglich“ auf eine Entsprechung in der Leichten Sprache verzichtet, hängt die Menschen, um die es geht, am Ende erneut ab. Aus der Barrierefreiheit wird eine neue Barriere. Und auch Vertreter*innen der gendergerechten Sprache profitieren von der Harmonisierung der beiden Ansprüche, denn die Fülle der möglichen Strategien wird durch den Abgleich mit Leichter Sprache auf das verengt, was unter beiden Gesichtspunkten funktioniert und sinnvoll ist.
Bedijs diskutiert verschiedene konkrete Vorschläge für eine praktische Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit in Leichter Sprache. Als besonders vielversprechend sieht sie die Kombination aus typographischem Zeichen wie dem Genderstern mit erläuterndem Disclaimer. Im typischen Duktus der Leichten Sprache illustriert sie eine mögliche Lösung:
Sie fordert die Forschung auf, ihre theoretischen Überlegungen empirisch zu prüfen. Ihre Arbeit legt aber schon jetzt nahe, dass es kein Entweder-Oder zwischen den Belangen der beiden marginalisierten Gruppen geben muss. Ein Brückenschlag ist nicht nur möglich, er ist sogar gewinnbringend.