Ausgangspunkt bildet die Sorge der beiden Gesprächspartnerinnen, dass durch neue sprachliche Markierungen – seien es Gendersterne, neue Pluralformen oder veränderte Groß- und Kleinschreibung von Adjektiven (etwa „Schwarz“ statt „schwarz“) – das Gemeinsame in der Sprache verloren gehe und die Sprache in ihrer „kommunikativen Funktion“ geschwächt werde. Raabe und Radetzkaja gewinnen den Eindruck eines wachsenden Anspruchs von immer mehr gesellschaftlichen Gruppen, die einforderten, in der Sprache repräsentiert zu werden, und versuchten, die Sprache mit eigenen Zeichen zu prägen. Dabei machten diese Gruppen zunehmend das subjektive Befinden zum Maßstab angemessener sprachlicher Darstellung. Die Sprache, so die Sorge von Raabe und Radetzkaja, drohe sich dadurch zunehmend um sich selbst zu drehen und die Fähigkeit einzubüßen, in einem gesellschaftsübergreifenden Verständnis auf die Welt zu verweisen.
Die Gesprächspartnerinnen wollen ihre Sprachkritik nicht als eine politisch konservative Kritik an gesellschaftlichen Emanzipationsprojekten verstanden wissen. Raabe positioniert sich als Feministin gegenüber zeitgenössischen Diskursen der Gender- und Queerstudies. Radetzkaja argumentiert aus der Position eines
Die Linie zwischen sich und den von ihnen kritisierten gesellschaftlichen Bewegungen ziehen Raabe und Radetzkaja also nicht anhand unterschiedlicher politischer Ziele. Stattdessen entwickeln sie im Gespräch die These einer Sozialisierung in unterschiedlichen Sprachkulturen. Einer „traditionellen, analogen, mono- und dialogischen, auf Hierarchien von Sendern und Empfängern gründenden Schreib- und Lesekultur“ stellt Raabe eine „digitale, multimediale, stark visuell geprägte, interaktive, enthierarchisierte und entkontextualisierte Kultur“ gegenüber. In diesen unterschiedlichen Medienkulturen, so die These, entwickle sich ein grundlegend anderes Verständnis von Sprache. Während die Sprache der traditionellen Schreib- und Lesekultur sozialen Prozessen lediglich folge, herrsche auf der anderen Seite der Anspruch, „durch Sprache
Raabes und Radetzkajas These von zwei Sprachkulturen – beziehungsweise unterschiedlichen Mediensystemen, die diese Sprachkulturen hervorbringen – könnte einen Anhaltspunkt liefern, warum gegenwärtige Diskurse um Sprache derzeit allzu oft die Form von Generationenkonflikten annehmen. Sie wirft jedoch Implikationen auf, die von den beiden Gesprächspartnerinnen im Anschluss nicht diskutiert werden. Sollte die These zutreffen und gegenwärtige Bewegungen in der Sprache durch eine Sozialisierung in einem bestimmten Mediensystem bedingt sein, stellt sich die Frage, inwiefern sich diese Bewegungen noch als selbstreferentielle, aktive Modernisierungen der Sprache durch einzelne Sprecher*innen beschreiben lassen. Markierungen wie Gendersterne ließen sich dann vielmehr als Folgen weitreichender gesellschaftlicher und technologischer Verschiebungen verstehen, die in der Sprache zum Ausdruck kommen. Gerade wenn man die in dem Gespräch aufgeworfene These ernst nimmt, wäre eine Unterscheidung zwischen einem „natürlichen“ oder „künstlichen“ Sprachwandel, einem passiven Folgen oder einer aktiven Modernisierung nicht mehr so leicht zu ziehen.
Empirische Belege, die diese und weitere im Gespräch entwickelte Thesen stützen könnten, kommen in dem Gespräch kurz. Raabe und Radetzkaja begründen ihre Zeitdiagnosen vielmehr mit Verweisen auf einen „Eindruck“, eine „Sorge“ oder ein „Gefühl“. So entsteht der Anschein einer Gesellschaft, in der die Sprache von einer beständig wachsenden Anzahl an sozialen Gruppierungen mit immer mehr orthographischen und typografischen Eigenwilligkeiten überfrachtet wird. Doch es bleibt im Gespräch offen, welche Gruppen sich mit welchen Ansprüchen und sprachlichen Markierungen tatsächlich an die Gesellschaft richten.