Wie eine Person über Krieg und Frieden entscheiden kann

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Fabian Burkhardt2022
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Wie eine Person über Krieg und Frieden entscheiden kann

»Das System Putin. Regimepersonalisierung in Russland und der Krieg gegen die Ukraine«

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Geschrieben von Sebastian Hoppe

Bei te.ma veröffentlicht 24.02.2023

Geschrieben von Sebastian Hoppe
Bei te.ma veröffentlicht 24.02.2023

Russlands Weg in den Krieg gegen die Ukraine könne nur verstanden werden, wenn man die extreme Personalisierung des russischen Herrschaftssystems berücksichtige, so der Politikwissenschaftler Fabian Burkhardt. Damit beleuchtet er einen Faktor, der in Darstellungen unterschiedlicher nationaler Interessen oder geopolitischer Großkonfliktlagen oft ignoriert wird. Nicht zuletzt stehe die Verschmelzung der Interessen Russlands mit jenen Wladimir Putins einer Verhandlungslösung entgegen.

Ein differenzierter Blick auf den Prozess der Regimepersonalisierung in Russland sei Burkhardt zufolge notwendig, um mit einer insbesondere in Deutschland anzutreffenden Fehlwahrnehmung aufzuräumen: Was viele Beobachter*innen als „russische Sicherheitsinteressen“ bezeichnen, ist tatsächlich nur das individuelle Weltbild Wladimir Putins bzw. einer kleinen Elitenclique. Die Herausforderung im Umgang mit dem Krieg führenden Russland sei demnach nicht, ein Abkommen über den Ausgleich staatlicher Sicherheitsinteressen auszuhandeln. Stattdessen müsse man sich bewusst machen, dass derlei diplomatische Verbindlichkeiten, die Stabilität und Frieden versprechen, erst wieder für die Zeit nach Putin realisierbar seien.

Burkhardt bettet seine Analyse des russischen Herrschaftssystems immer wieder in den aktuellen politikwissenschaftlichen Forschungsstand ein.1 Für Russland unter Wladimir Putin lassen sich vier Aspekte von Regimepersonalisierung ausmachen:2 Erstens habe Putin seine Herrschaft auf Dauer sichergestellt. Ein institutionell verankerter Mechanismus, der den regelmäßigen Austausch der Herrschenden regelt, existiere nicht mehr. Zweitens habe es einen allgemeinen Prozess der Deinstitutionalisierung gegeben. Wichtige Entscheidungen in fast allen Politikbereichen hingen nur noch vom Willen des Diktators ab. Damit zusammenhängend habe sich, drittens, ein Patronage-Netzwerk in und neben staatlichen Institutionen herausgebildet, die alle beim obersten Patron Putin zusammenliefen.3 Und viertens habe es eine extreme mediale Zuspitzung auf das Handeln des Diktators gegeben. Die Entscheidungen und Aussagen Putins werden von den staatlich kontrollierten Medien als Zentrum von Politik dargestellt.4

Burkhardts Analyse zeigt somit die Grenzen von Erklärungen auf, die mit russischen Sicherheitsinteressen argumentieren. Denn die Ukraine war in den Wochen vor und nach dem Einmarsch am 24. Februar 2022 zu weitreichenden Kompromissen bereit, etwa zur von Russland geforderten Neutralität unter Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft. Dennoch kam es zum Krieg, der letztendlich Konsequenzen hatte, die Russlands Sicherheitsinteressen entgegenlaufen: Finnland und Schweden haben die Nato-Mitgliedschaft beantragt, die Ukraine wird enger als zuvor in westliche Militärstrukturen eingebettet und Russland ist durch Sanktionen von wichtigen Schlüsseltechnologien abgeschnitten, was auch seinen militärisch-industriellen Komplex zurückwirft. Die Genese des Krieges könne man demnach nicht unter Rückgriff auf die vermeintlichen Sicherheitsinteressen Russlands verstehen. Die radikalisierte Sicht Putins, wonach die Ukraine ein künstliches Gebilde sei, und der herausgehobene Einfluss dieser Sicht durch die Personalisierung des Regimes, so Burkhardt, müssen zentrale Bestandteile der Erklärung des Angriffskriegs sein. Sein Fazit fällt konsequenterweise pessimistisch aus: Äußeren Frieden könne es nur durch einen internen Bruch mit dem System Putin geben.

Das bedeutet Burkhardt zufolge auch, dass man sich von dem Gedanken verabschieden könne, Putin sei womöglich das kleinere Übel im Vergleich zu Kommunisten oder Ultranationalisten. Schließlich sei es der vermeintlich „moderate“ Putin gewesen, der seine Armee gen Kyjiw marschieren ließ und nun ukrainische Wohnhäuser bombardiere.5 Die extreme Zuspitzung der russischen Politik auf die Vorstellungen einer Einzelperson und der sie umgebenden Elite habe zudem Konsequenzen für eine potenzielle Verhandlungslösung des Krieges. Burkhardt ist der Ansicht, dass Russland selbst durch ein Friedensabkommen nicht „dauerhaft stillgelegt“ werden könne. Denn die Außen- und Innenpolitik des Landes folge mittlerweile nicht mehr Mustern, die auf Aushandlungen zwischen Gruppen, Interessenkoalitionen oder Institutionen zurückzuführen sind. Vielmehr entspringen sie der radikalisierten Weltsicht eines kleinen Zirkels von Entscheidungsträgern, die durch diplomatische Abkommen, in denen es notwendigerweise um Kompromisse geht, nicht mehr einzufangen sind.

Fußnoten
5

Siehe für den Zusammenhang von Autoritarismus, Personalisierung und Regimekollaps etwa Barbara Geddes, Erica Frantz und Joseph Wright: How Dictatorships Work. Power, Personalization, and Collapse. Cambridge University Press, Cambridge 2018, ISBN 9781316336182.

Alexander Baturo und Johan A. Elkink: The New Kremlinology. Understanding Regime Personalization in Russia. Oxford University Press, Oxford 2021, ISBN 9780192896193.

Henry E. Hale: Patronal Politics. Eurasian Regime Dynamics in Comparative Perspective. Cambridge University Press, New York 2015, ISBN 9781316057889.

Sergej Guriev und Daniel Treisman: Spin Dictators. The Changing Face of Tyranny in the 21st Century. Princeton University Press, Princeton 2022, ISBN 9780691224466.

Fiona Hill und Clifford G. Gaddy: Mr. Putin. Operative in the Kremlin. Brookings Institution Press, Washington, D.C. 2013, ISBN 978-0-8157-2376-9.

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