Im Jahr 2009 schrieb die große Koalition aus CDU und SPD, die damals mit einem Stimmenanteil von 70 Prozent noch dieser Bezeichnung gerecht wurde, die Schuldenbremse in die deutsche Verfassung. Zwar gehören Auseinandersetzungen um die Höhe der Staatsverschuldung seit jeher und nicht nur in Deutschland zur öffentlichen Debatte. Den Weg, die Schuldenaufnahme über einen eigenen Verfassungsartikel zu regeln und damit ganze Generationen rechtlich zu binden, gehen allerdings die wenigsten Länder. Auch in Deutschland wäre es wohl nicht zu einer so drastischen Maßnahme gekommen, hätte man es seit der
Seit ihrer Einführung ist die Schuldenbremse regelmäßig Gegenstand heftiger politischer Kontroversen. Im November 2023 erregte ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts Aufmerksamkeit, das die Kreditaufnahme an der Schuldenbremse vorbei – in Form von diversen Sondervermögen und Umwidmungen – für verfassungswidrig erklärte und damit eine tiefe Staats(finanzierungs)krise hervorrief. Denn am deutschen Haushalt hängen nicht nur geplante nationale Ausgaben, etwa für Soziales und Verkehr, sondern auch die Umsetzung europäischer und globaler Projekte. Das ist auch der Grund, weshalb die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP die Suche nach einem praktikablen Umgang mit der Schuldenbremse nicht nur als juristisch-technisches Problem behandeln kann, dem durch Budgetkürzungen beizukommen wäre. Hinter der Frage der deutschen Staatsverschuldung steht ein „Elefant im Raum“: die grundsätzliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik sowie die allgemeine Bereitschaft der politischen Klasse, im ausreichenden Maß Investitionen in die Zukunft zu tätigen. Die weltpolitische Relevanz dieser Ausrichtung hat dazu geführt, dass international seit mehr als zehn Jahren erneut die „
Keine harte Bremse
Man muss die Schuldenbremse als Prisma verstehen, durch das die Widersprüche der deutschen Wirtschaftspolitik ersichtlich werden. Was genau dieser spezielle Verfassungsartikel ist, wie er zustande kam und welche Reformvorschläge existieren, hat jüngst das Team des Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen zusammengefasst. So ging die Schuldenbremse aus drei miteinander verwobenen Entwicklungen hervor. Erstens kritisierte das Bundesverfassungsgericht seit Ende der 1980er Jahre regelmäßig, dass Artikel 115 des Grundgesetzes zu unspezifisch sei. Dieser setzte zwar zum einen der Schuldenaufnahme des Staates Grenzen, ermöglichte diese aber auch, wenn es sich um notwendige Investitionen handelte, etwa in die Erneuerung der Infrastruktur. Zweitens wurden die in nahezu allen EU-Mitgliedstaaten steigenden Staatsschulden im Verlauf der 2000er Jahre zunehmend als politisches Problem diskutiert. In der Folge drängten immer mehr nationale und europäische politische Akteure auf eine „Lösung der Schuldenfrage“. Drittens wirkte die globale Finanzkrise seit 2008 als Katalysator, der einen enormen Handlungsdrang verursachte, in dessen Zuge dann auch die deutsche Schuldenbremse eingeführt wurde.
Seitdem setzt sie dem deutschen Staat engere Grenzen als frühere Regelungen, indem sie die Schuldenaufnahme – vereinfacht gesagt – an die Wirtschaftsleistung der vergangenen Jahre und das zukünftige Wirtschaftspotential knüpft. Beides ist, wie die Autoren des Dezernat Zukunft betonen, allerdings hochgradig auslegungsbedürftig und auch veränderbar: Die relevanten Gesetze, die die Berechnungsgrundlagen für beide Faktoren bilden, genießen anders als die Schuldenbremse selbst keinen Verfassungsrang. Sie unterliegen dem Zugriff der gewöhnlichen Bundesgesetzgebung, also letztendlich dem Willen des Parlaments. Das Insistieren politischer Akteure, insbesondere der FDP und großer Teile der Bundes-CDU, auf die strikte Einhaltung der Schuldenbremse ist also eine bewusst rigide Auslegung eines noch jungen Verfassungsartikels. Mehr Schulden wären auch mit der derzeitigen deutschen Schuldenbremse möglich, sie ist nicht notwendigerweise eine „Investitionsbremse“. Der Tiefstand öffentlicher Investitionen geht also nur teilweise aus rechtlichen, vielmehr hingegen aus selbst auferlegten politischen Beschränkungen hervor.
Anspruch und fiskalische Wirklichkeit
Die Schuldenbremse steht sinnbildlich für die deutsche Wirtschaftspolitik. Denn trotz multipler Krisen in den vergangenen Jahren und der zukünftigen Jahrhundertaufgabe der grünen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zeichnet sich Deutschland durch eine im internationalen Maßstab extrem zurückhaltende
Vor allem aber bindet die zusehends offen zutage tretende Dysfunktionalität der Schuldenbremse im Lichte drängender Zukunftsfragen politische Energien. Man kann hierfür wohl kein besseres Symbol finden als die Absage der Reise des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck zum internationalen Klimagipfel COP28 in Dubai im Dezember 2023: Statt mit anderen Ministern die globale nachhaltige Transformation zu organisieren, nahm Habeck auf Bitte des Bundeskanzlers weiter an den festgefahrenen Haushaltsverhandlungen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts teil.
Trotz des Widerspruchs zwischen Anspruch und Wirklichkeit verteidigen zahlreiche Politiker, 64 % der deutschen Bevölkerung und auch renommierte wirtschaftswissenschaftliche Einrichtungen, wie etwa das Münchner ifo-Institut, die Sinnhaftigkeit der Schuldenbremse. Letzteres argumentierte in einer 2021 veröffentlichten Einschätzung, Deutschlands Fiskalpolitik „brauche einen ordnungspolitischen Anker in guten und in schlechten Zeiten“. Mittlerweile erkennt das politisch einflussreiche Institut aber an, dass die Wirtschaftswissenschaften bei der Frage der Abschaffung bzw. substanziellen Reform der Schuldenbremse gespalten sind und eine grundgesetzkonforme Beibehaltung der derzeitigen Regelung nur über Subventionskürzungen, einen Abbau von Sozialleistungen oder Steuererhöhungen zu haben ist.
Darüber hinaus betonen FDP, CDU, AfD und selbst Teile der SPD die fiskalische Generationengerechtigkeit, also die vermeintliche Notwendigkeit, zukünftigen Generationen keine Schulden zu hinterlassen. Andere hingegen kritisieren, dass durch die derzeitige Praxis der Schuldenvermeidung und Unterinvestition zwar keine Schulden, aber marode Infrastrukturen, eine nicht mehr wettbewerbsfähige, fossil betriebene Wirtschaft sowie ein personell unterbesetztes Bildungssystem vererbt werden. Zudem gebe es zu wenig Mittel für den Kampf gegen die Klimakrise, dessen Verfassungsrang im Jahr 2021 sogar vom Bundesverfassungsgericht angemahnt wurde.
Die Phalanx internationaler Kritiker wächst
Weil andere Länder einen ähnlichen Investitionsbedarf haben und wesentlich mehr in diesem Bereich tun als Deutschland, steht den deutschen Verteidigern der Schuldenbremse mittlerweile eine Phalanx namhafter internationaler Kritiker gegenüber. Unter ihnen befinden sich oft als
Dem setzen Verfechter ausgeglichener Haushalte und „solider Staatsfinanzen“ (Christian Lindner) sowie große Teile der internationalen Finanzmärkte das Konzept „nachhaltiger Finanzierung“ (sustainable finance) entgegen. Dahinter steht unter anderem die Idee des sog.
In der Praxis zeigt sich bisher jedoch, dass dieser Crowding-in-Effekt, also die Hebelwirkung kleiner staatlicher für hohe private Investitionen, nur durch umfangreiche öffentliche Investitionen erreicht werden kann. Diese setzen allerdings eine angemessene Verschuldungsbereitschaft staatlicher Institutionen oder speziell für diesen Zweck geschaffener Agenturen voraus. Für Deutschland etwa hat ein Forscherteam vorgeschlagen, den von der Ampelkoalition geschaffenen Klima- und Transformationsfonds (KTF) mit eigenen Kreditaufnahmebefugnissen (also der Fähigkeit, sich zu verschulden) auszustatten, um die Mittel von derzeit 212 Milliarden Euro für 2024 bis 2027 noch zu vergrößern.
Doch nicht nur die Klimakrise verlangt ein Umdenken in Deutschland. Auch die von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 ausgerufene „Zeitenwende“ in der Sicherheitspolitik, die nach der russischen Invasion der Ukraine großen Konsens in der deutschen Gesellschaft und Politik genoss, verlangt dauerhafte Mehrausgaben im militärischen Bereich. Die noch einmal bekräftigte Selbstverpflichtung zum
Ungeachtet dieses fiskalpolitischen und internationalen Handlungsdrucks, ziehen sich Befürworter der Schuldenbremse auf die Ebene der
Politische Kosten
Die Forschung hat in jüngster Zeit auch die politischen Konsequenzen fiskalischer Konsolidierung in den Blick genommen. Welche Konsequenzen hat also der Versuch, Schulden abzubauen und einen ausgeglichenen Haushalt durch Budgetkürzungen zu erreichen? Der Befund ist so eindeutig wie erschreckend: So hat ein Forscherteam der Universität Bonn und der Schwedischen Nationalbank auf Basis von Daten aus 124 europäischen Regionen herausgefunden, dass eine entsprechende Fiskalpolitik nicht nur das Bruttoinlandsprodukt, die Beschäftigung, private Investitionen und Löhne schrumpfen, sondern in der Folge auch den Zuspruch für extreme Parteien und das Misstrauen gegenüber der Politik steigen lässt. Zudem beobachten die Forscher eine sinkende Wahlbeteiligung bei gleichzeitig zunehmender politischer Fragmentierung.
Doch noch konnte im Bundestag keine pragmatische, am Primat des Möglichen und Notwendigen orientierte Debatte Fuß fassen. Stattdessen hat sich durch den vermeintlichen Erfolg des deutschen Exportmodells, die Verwerfungen der Eurokrise und den Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland eine fatale Spirale in der wirtschaftspolitischen Debatte ergeben.
Ohne massive wirtschafts- und sozialpolitische Interventionen und einen damit einhergehenden gesellschaftlichen Aufbruch – ursprünglich das große Anliegen der Ampelregierung – werden sich jedoch weder die allgegenwärtige und amorphe Unzufriedenheit noch die hohen Zustimmungswerte für die AfD angehen lassen.
Eine Gefahr für das europäische Projekt
Die fatalen Auswirkungen prinzipieller fiskalischer Zurückhaltung werden noch deutlicher, wenn man die deutsche Wirtschaftspolitik in den europäischen Kontext stellt. Denn die Positionierung Deutschlands in der Eurokrise hat insbesondere den südeuropäischen Ländern und der Reputation Deutschlands als Motor des europäischen Einigungsprozesses geschadet. Das deutsche Nein zu jeglicher Form von Transferzahlungen oder die jahrelange Verweigerung einer gemeinsamen Schuldenaufnahme geht vor allem auf eine bestimmte Auslegung des
Darüber hinaus zeugt die deutsche Position von einem tiefen Misstrauen gegenüber anderen EU-Mitgliedstaaten, denen man nicht zutraut, zur Verfügung gestellte Mittel sinnvoll einzusetzen. Nicht nur Kritiker der Schuldenbremse, auch zahlreiche Forschende haben darauf hingewiesen, dass diese Position die fiskalischen Kapazitäten der EU nachhaltig schwächt, also die Fähigkeit, unter Rückgriff auf größere finanzielle Ressourcen wichtige Zukunftsprojekte anzugehen.
Die Schuldenbremse ist also nicht der alleinige, möglicherweise nicht einmal der hauptsächliche Grund für die fehlenden Investitionen in und aus Deutschland. Auf technischer Ebene existieren zahlreiche Reformideen und Ausgestaltungsmöglichkeiten, wie etwa die Vorschläge des Dezernat Zukunft oder des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz zeigen.
Der US-amerikanische Autor und Politikberater Robert Kagan wies 2019 zurecht darauf hin, dass Deutschland seit den 1870er Jahren „einer der unberechenbarsten und unbeständigsten Akteure der Weltpolitik“ sei. Mit der Rückkehr der „deutschen Frage“ in Europa erhält seine Einschätzung eine tragische Aktualität. Das Problem ist diesmal kein entfesselter Militarismus wie in den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts oder eine Angst vor deutscher Dominanz wie im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1989. Stattdessen klaffen heute die Sicht des politischen Deutschlands auf sich selbst und die Herausforderungen der Zeit auf fatale Weise auseinander. Als der große Europäer und frühere Bundeskanzler Willy Brandt seinen Anspruch an gute Politik drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer formulierte, mag er eine solche Situation vor Augen gehabt haben: „Jede Zeit will eigene Antworten und man hat auf ihrer Höhe zu sein, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Was dieser Tage in Deutschland zur Disposition steht, ist eine wirtschaftspolitische Orthodoxie, die nur noch nach deutschen Maßstäben „auf der Höhe der Zeit“ ist. Ein solcher nationaler Referenzrahmen wird jedoch weder den eigenen noch den europäischen oder globalen Ansprüchen gerecht.