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SPECIAL INPUT: Sebastian Hoppe

Die Rückkehr der „deutschen Frage“ in Europa

Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas, doch schon lange kein Motor des europäischen Projektes mehr. Das liegt vor allem an der deutschen Wirtschaftspolitik, die sowohl national als auch im globalen Vergleich unter ihren Möglichkeiten bleibt. Trotz zunehmender internationaler Kritik blenden die Verantwortlichen die Dringlichkeit der neuen „deutschen Frage“ aus. Die Schäden für die EU sind bereits jetzt enorm.

Umbruch | Krieg | Europa

Im Jahr 2009 schrieb die große Koalition aus CDU und SPD, die damals mit einem Stimmenanteil von 70 Prozent noch dieser Bezeichnung gerecht wurde, die Schuldenbremse in die deutsche Verfassung. Zwar gehören Auseinandersetzungen um die Höhe der Staatsverschuldung seit jeher und nicht nur in Deutschland zur öffentlichen Debatte. Den Weg, die Schuldenaufnahme über einen eigenen Verfassungsartikel zu regeln und damit ganze Generationen rechtlich zu binden, gehen allerdings die wenigsten Länder. Auch in Deutschland wäre es wohl nicht zu einer so drastischen Maßnahme gekommen, hätte man es seit der globalen Finanzkrise 2008 und den sich anschließenden ökonomischen Verwerfungen nicht mit einer Überlagerung mehrerer Faktoren zu tun gehabt, die es lohnen, ob ihrer Konsequenzen näher betrachtet zu werden.

Seit ihrer Einführung ist die Schuldenbremse regelmäßig Gegenstand heftiger politischer Kontroversen. Im November 2023 erregte ein wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts Aufmerksamkeit, das die Kreditaufnahme an der Schuldenbremse vorbei – in Form von diversen Sondervermögen und Umwidmungen – für verfassungswidrig erklärte und damit eine tiefe Staats(finanzierungs)krise hervorrief. Denn am deutschen Haushalt hängen nicht nur geplante nationale Ausgaben, etwa für Soziales und Verkehr, sondern auch die Umsetzung europäischer und globaler Projekte. Das ist auch der Grund, weshalb die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP die Suche nach einem praktikablen Umgang mit der Schuldenbremse nicht nur als juristisch-technisches Problem behandeln kann, dem durch Budgetkürzungen beizukommen wäre. Hinter der Frage der deutschen Staatsverschuldung steht ein „Elefant im Raum“: die grundsätzliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik sowie die allgemeine Bereitschaft der politischen Klasse, im ausreichenden Maß Investitionen in die Zukunft zu tätigen. Die weltpolitische Relevanz dieser Ausrichtung hat dazu geführt, dass international seit mehr als zehn Jahren erneut die „deutsche Fragediskutiert wird.1

Keine harte Bremse

Man muss die Schuldenbremse als Prisma verstehen, durch das die Widersprüche der deutschen Wirtschaftspolitik ersichtlich werden. Was genau dieser spezielle Verfassungsartikel ist, wie er zustande kam und welche Reformvorschläge existieren, hat jüngst das Team des Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen zusammengefasst. So ging die Schuldenbremse aus drei miteinander verwobenen Entwicklungen hervor. Erstens kritisierte das Bundesverfassungsgericht seit Ende der 1980er Jahre regelmäßig, dass Artikel 115 des Grundgesetzes zu unspezifisch sei. Dieser setzte zwar zum einen der Schuldenaufnahme des Staates Grenzen, ermöglichte diese aber auch, wenn es sich um notwendige Investitionen handelte, etwa in die Erneuerung der Infrastruktur. Zweitens wurden die in nahezu allen EU-Mitgliedstaaten steigenden Staatsschulden im Verlauf der 2000er Jahre zunehmend als politisches Problem diskutiert. In der Folge drängten immer mehr nationale und europäische politische Akteure auf eine „Lösung der Schuldenfrage“. Drittens wirkte die globale Finanzkrise seit 2008 als Katalysator, der einen enormen Handlungsdrang verursachte, in dessen Zuge dann auch die deutsche Schuldenbremse eingeführt wurde.

Seitdem setzt sie dem deutschen Staat engere Grenzen als frühere Regelungen, indem sie die Schuldenaufnahme – vereinfacht gesagt – an die Wirtschaftsleistung der vergangenen Jahre und das zukünftige Wirtschaftspotential knüpft. Beides ist, wie die Autoren des Dezernat Zukunft betonen, allerdings hochgradig auslegungsbedürftig und auch veränderbar: Die relevanten Gesetze, die die Berechnungsgrundlagen für beide Faktoren bilden, genießen anders als die Schuldenbremse selbst keinen Verfassungsrang. Sie unterliegen dem Zugriff der gewöhnlichen Bundesgesetzgebung, also letztendlich dem Willen des Parlaments. Das Insistieren politischer Akteure, insbesondere der FDP und großer Teile der Bundes-CDU, auf die strikte Einhaltung der Schuldenbremse ist also eine bewusst rigide Auslegung eines noch jungen Verfassungsartikels. Mehr Schulden wären auch mit der derzeitigen deutschen Schuldenbremse möglich, sie ist nicht notwendigerweise eine „Investitionsbremse“. Der Tiefstand öffentlicher Investitionen geht also nur teilweise aus rechtlichen, vielmehr hingegen aus selbst auferlegten politischen Beschränkungen hervor.

Anspruch und fiskalische Wirklichkeit

Die Schuldenbremse steht sinnbildlich für die deutsche Wirtschaftspolitik. Denn trotz multipler Krisen in den vergangenen Jahren und der zukünftigen Jahrhundertaufgabe der grünen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zeichnet sich Deutschland durch eine im internationalen Maßstab extrem zurückhaltende Fiskalpolitik und Investitionsbereitschaft aus.2 Im Jahr 2022 lag das Verhältnis von Verschuldung und Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland bei 66,5 Prozent – innerhalb der Gruppe der G7 die niedrigste Quote. Die USA (121,7), Japan (261,3), Frankreich (111,1), Großbritannien (102,6) sind allesamt weit höher verschuldet. Dass Deutschland trotzdem „Rekordinvestitionen“ auf den Weg gebracht habe, wie es Bundesfinanzminister Christian Lindner Anfang Dezember 2023 behauptete, stimmt nicht. Denn Lindner argumentiert für das Jahr 2022 mit absoluten Zahlen. Setzt man sie jedoch in Relation zum BIP und zum eigentlichen Investitionsbedarf, fällt das Urteil ernüchternder aus. Seit 20 Jahren – und auch im Jahr 2022 – sind die deutschen Nettoinvestitionen negativ. Weniger technisch ausgedrückt: Deutschland lebt von der Substanz.3 

Vor allem aber bindet die zusehends offen zutage tretende Dysfunktionalität der Schuldenbremse im Lichte drängender Zukunftsfragen politische Energien. Man kann hierfür wohl kein besseres Symbol finden als die Absage der Reise des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck zum internationalen Klimagipfel COP28 in Dubai im Dezember 2023: Statt mit anderen Ministern die globale nachhaltige Transformation zu organisieren, nahm Habeck auf Bitte des Bundeskanzlers weiter an den festgefahrenen Haushaltsverhandlungen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts teil.

Trotz des Widerspruchs zwischen Anspruch und Wirklichkeit verteidigen zahlreiche Politiker, 64 % der deutschen Bevölkerung und auch renommierte wirtschaftswissenschaftliche Einrichtungen, wie etwa das Münchner ifo-Institut, die Sinnhaftigkeit der Schuldenbremse. Letzteres argumentierte in einer 2021 veröffentlichten Einschätzung, Deutschlands Fiskalpolitik „brauche einen ordnungspolitischen Anker in guten und in schlechten Zeiten“. Mittlerweile erkennt das politisch einflussreiche Institut aber an, dass die Wirtschaftswissenschaften bei der Frage der Abschaffung bzw. substanziellen Reform der Schuldenbremse gespalten sind und eine grundgesetzkonforme Beibehaltung der derzeitigen Regelung nur über Subventionskürzungen, einen Abbau von Sozialleistungen oder Steuererhöhungen zu haben ist.

Darüber hinaus betonen FDP, CDU, AfD und selbst Teile der SPD die fiskalische Generationengerechtigkeit, also die vermeintliche Notwendigkeit, zukünftigen Generationen keine Schulden zu hinterlassen. Andere hingegen kritisieren, dass durch die derzeitige Praxis der Schuldenvermeidung und Unterinvestition zwar keine Schulden, aber marode Infrastrukturen, eine nicht mehr wettbewerbsfähige, fossil betriebene Wirtschaft sowie ein personell unterbesetztes Bildungssystem vererbt werden. Zudem gebe es zu wenig Mittel für den Kampf gegen die Klimakrise, dessen Verfassungsrang im Jahr 2021 sogar vom Bundesverfassungsgericht angemahnt wurde.

Die Phalanx internationaler Kritiker wächst

Weil andere Länder einen ähnlichen Investitionsbedarf haben und wesentlich mehr in diesem Bereich tun als Deutschland, steht den deutschen Verteidigern der Schuldenbremse mittlerweile eine Phalanx namhafter internationaler Kritiker gegenüber. Unter ihnen befinden sich oft als neoliberal bezeichnete Akteure, etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) oder die Financial Times, die selbst lange die Prinzipien des Washingtoner Konsenses und damit die gleiche fiskalische Zurückhaltung wie derzeit Deutschland vertreten haben. Doch während die Regierenden in Berlin an der einstmaligen Orthodoxie festhalten, denken große Teile der Welt um: Mittlerweile zeigen sich nicht nur in den USA, China oder in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern die Konturen eines neuen „produktivistischen Paradigmas“ (Dani Rodrik). Produktivistisch steht hier für das Ziel, durch staatliche finanzielle Mittel die Ausrichtung vor allem der Industrie direkt zu beeinflussen oder gar neu zu schaffen.4 Hierfür ist die Mobilisierung riesiger finanzieller Mittel für transformative Investitionen in die Wirtschaft notwendig. Die Schuldenfrage hingegen ist nachgelagert. Vor diesem Hintergrund sieht Brian Deese, der ehemalige Direktor des US-amerikanischen National Economic Council (2021-23), Deutschland nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil an einem „selbstzerstörerischen Tiefpunkt“. „Reformen“, so sein Rat, „nicht Kapitulation, sind der klügste Weg nach vorn“.

Dem setzen Verfechter ausgeglichener Haushalte und „solider Staatsfinanzen“ (Christian Lindner) sowie große Teile der internationalen Finanzmärkte das Konzept „nachhaltiger Finanzierung“ (sustainable finance) entgegen. Dahinter steht unter anderem die Idee des sog. De-Risking: Der Staat solle die Risiken für private Investitionen abfedern, etwa durch öffentlich-private Partnerschaften (Public Private Partnerships, PPP), sodass der Löwenanteil des benötigten Investitionsvolumens letztendlich von Unternehmen getragen wird. Einer Studie der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zufolge würden in Deutschland fünf Billionen Euro benötigt, um bis 2045 Klimaneutralität zu erreichen. Der Staat, so die Annahme, könne durch De-Risking die Neuverschuldung begrenzen und müsse selbst nicht in hohem Maße investieren.5

In der Praxis zeigt sich bisher jedoch, dass dieser Crowding-in-Effekt, also die Hebelwirkung kleiner staatlicher für hohe private Investitionen, nur durch umfangreiche öffentliche Investitionen erreicht werden kann. Diese setzen allerdings eine angemessene Verschuldungsbereitschaft staatlicher Institutionen oder speziell für diesen Zweck geschaffener Agenturen voraus. Für Deutschland etwa hat ein Forscherteam vorgeschlagen, den von der Ampelkoalition geschaffenen Klima- und Transformationsfonds (KTF) mit eigenen Kreditaufnahmebefugnissen (also der Fähigkeit, sich zu verschulden) auszustatten, um die Mittel von derzeit 212 Milliarden Euro für 2024 bis 2027 noch zu vergrößern.

Doch nicht nur die Klimakrise verlangt ein Umdenken in Deutschland. Auch die von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 ausgerufene „Zeitenwende“ in der Sicherheitspolitik, die nach der russischen Invasion der Ukraine großen Konsens in der deutschen Gesellschaft und Politik genoss, verlangt dauerhafte Mehrausgaben im militärischen Bereich. Die noch einmal bekräftigte Selbstverpflichtung zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato, das Bekenntnis zum Ziel, die EU resilienter und „strategisch souveräner“ zu machen, sowie der außenpolitische Anspruch, global gestaltend zu wirken, kollidieren allerdings massiv mit der Einhaltung der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form. Hinzu kommt die Notwendigkeit, die Ukraine im Lichte der anhaltenden russischen Kriegsanstrengungen langfristig militärisch, humanitär und wirtschaftlich zu unterstützen, was weitere finanzielle Ressourcen erfordern wird. 

Ungeachtet dieses fiskalpolitischen und internationalen Handlungsdrucks, ziehen sich Befürworter der Schuldenbremse auf die Ebene der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der „nachhaltigen Staatsfinanzen“ zurück (wofür ihnen ebenfalls Kritik entgegenschlägt) oder bringen mit der Generationengerechtigkeit ein problematisches, da unvollständiges moralisches Argument ins Spiel.6 Zwar ist es vollkommen richtig, dass es Grenzen der Verschuldung gibt: Eine übertriebene Kreditaufnahme kann zu Inflation führen, wenn die Kredite falsch eingesetzt werden. Die öffentliche Verschuldung könnte so stark steigen, dass der Staat die Zinsen nicht mehr bedienen kann. Oder die internationalen Kapitalmärkte verlieren das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit eines Staates. Doch wie der Wirtschaftsweise Achim Truger diagnostiziert, „trifft all das auf Deutschland nicht zu“. 

Politische Kosten

Die Forschung hat in jüngster Zeit auch die politischen Konsequenzen fiskalischer Konsolidierung in den Blick genommen. Welche Konsequenzen hat also der Versuch, Schulden abzubauen und einen ausgeglichenen Haushalt durch Budgetkürzungen zu erreichen? Der Befund ist so eindeutig wie erschreckend: So hat ein Forscherteam der Universität Bonn und der Schwedischen Nationalbank auf Basis von Daten aus 124 europäischen Regionen herausgefunden, dass eine entsprechende Fiskalpolitik nicht nur das Bruttoinlandsprodukt, die Beschäftigung, private Investitionen und Löhne schrumpfen, sondern in der Folge auch den Zuspruch für extreme Parteien und das Misstrauen gegenüber der Politik steigen lässt. Zudem beobachten die Forscher eine sinkende Wahlbeteiligung bei gleichzeitig zunehmender politischer Fragmentierung.7 Eine Meta-Studie, die 47 Untersuchungen systematisch ausgewertet hat, kommt zudem zum Ergebnis, dass der von Verfechtern der Schuldenbremse oft behauptete Zusammenhang zwischen öffentlicher Verschuldung und geringem Wirtschaftswachstum in Europa nicht existiert und daher Vorsicht mit pauschalen Instrumenten der Schuldenreduzierung geboten sei.8 Auch die Angst vor dem Wähler kann nicht wirklich ins Feld geführt werden: Laut einer weiteren Studie befürworten die Europäer Verschuldung, wenn diese für Zukunftsinvestitionen eingesetzt wird.9

Doch noch konnte im Bundestag keine pragmatische, am Primat des Möglichen und Notwendigen orientierte Debatte Fuß fassen. Stattdessen hat sich durch den vermeintlichen Erfolg des deutschen Exportmodells, die Verwerfungen der Eurokrise und den Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland eine fatale Spirale in der wirtschaftspolitischen Debatte ergeben.10 CDU, FDP, Teile der SPD und die AfD halten nach wie vor an der Sinnhaftigkeit der Schuldenbremse als Verfassungsregel fest. Die Grünen und die Linken sind zwar für eine Abschaffung der Regel, aber politisch zu marginalisiert, um Mehrheiten für dieses Vorhaben zu finden. Erstere sind innerhalb der Ampelkoalition zur maßgeblichen Zielscheibe konservativer, liberaler und populistischer Kritik geworden und befinden sich trotz Regierungsbeteiligung im permanenten Selbstbehauptungsmodus. Die Linke wiederum fällt auf absehbare Zeit als schlagkräftige Opposition aus, da sie die Abspaltung des „Bündnis Sahra Wagenknecht“ den Fraktionsstatus gekostet hat. Schließlich thront über allem die Angst vor dem Protestwähler, was zur schleichenden Übernahme von AfD-Positionen führt, ohne dass diese dafür regieren muss.11

Ohne massive wirtschafts- und sozialpolitische Interventionen und einen damit einhergehenden gesellschaftlichen Aufbruch – ursprünglich das große Anliegen der Ampelregierung – werden sich jedoch weder die allgegenwärtige und amorphe Unzufriedenheit noch die hohen Zustimmungswerte für die AfD angehen lassen.12

Eine Gefahr für das europäische Projekt

Die fatalen Auswirkungen prinzipieller fiskalischer Zurückhaltung werden noch deutlicher, wenn man die deutsche Wirtschaftspolitik in den europäischen Kontext stellt. Denn die Positionierung Deutschlands in der Eurokrise hat insbesondere den südeuropäischen Ländern und der Reputation Deutschlands als Motor des europäischen Einigungsprozesses geschadet. Das deutsche Nein zu jeglicher Form von Transferzahlungen oder die jahrelange Verweigerung einer gemeinsamen Schuldenaufnahme geht vor allem auf eine bestimmte Auslegung des Ordoliberalismus zurück.13 Insbesondere für konservative und liberale Politiker beruht die Stabilität der deutschen und europäischen Wirtschaftsordnung in erster Linie auf der Einhaltung eines ordnungspolitischen Rahmens, der zunächst den größeren und erfolgreichen deutschen Unternehmen bzw. der Stabilisierung des deutschen Modells dient.14 Diese legalistische Ordnungsperspektive versperrt aber den Blick auf die makroökonomischen Ungleichgewichte innerhalb des gemeinsamen Währungsraums zuungunsten der südeuropäischen Länder.15

Darüber hinaus zeugt die deutsche Position von einem tiefen Misstrauen gegenüber anderen EU-Mitgliedstaaten, denen man nicht zutraut, zur Verfügung gestellte Mittel sinnvoll einzusetzen. Nicht nur Kritiker der Schuldenbremse, auch zahlreiche Forschende haben darauf hingewiesen, dass diese Position die fiskalischen Kapazitäten der EU nachhaltig schwächt, also die Fähigkeit, unter Rückgriff auf größere finanzielle Ressourcen wichtige Zukunftsprojekte anzugehen.16 Der rein regulatorische, sich auf einen Ordnungsrahmen zurückziehende Staat jedoch ist „für die EU kein lebensfähiges Modell mehr“, wie es der renommierte Europaforscher Frank Schimmelfennig formuliert. 

Die Schuldenbremse ist also nicht der alleinige, möglicherweise nicht einmal der hauptsächliche Grund für die fehlenden Investitionen in und aus Deutschland. Auf technischer Ebene existieren zahlreiche Reformideen und Ausgestaltungsmöglichkeiten, wie etwa die Vorschläge des Dezernat Zukunft oder des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz zeigen.17 Diese reichen von der Anpassung der im Gesetz genannten Berechnungsgrundlagen bis zur Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Investitionen. Das größere Problem ist jedoch nicht technischer, sondern politischer Natur: Spätestens seit der Regierung Merkel II (2009-13) fehlen dem europäischen Einigungsprozess innerhalb Deutschlands die Mehrheiten und der Wille in Form eines pro-europäischen und zukunftsorientierten Projektes, das von den Regierenden auch als solches benannt wird.18 Hierzu würde etwa gehören, die Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Schuldenaufnahme in einem gemeinsamen Währungsraum anzuerkennen und aktiv an einer Beschäftigungs- und Industriepolitik für das gebeutelte Südeuropa zu arbeiten. Wäre der Mut zu einem solchen Projekt vorhanden, ließe sich die wirtschaftspolitische Umsetzung einer nachhaltigen europäischen Zukunft pragmatischer gestalten und würde nicht an Glaubensgrundsätzen zerschellen.

Der US-amerikanische Autor und Politikberater Robert Kagan wies 2019 zurecht darauf hin, dass Deutschland seit den 1870er Jahren „einer der unberechenbarsten und unbeständigsten Akteure der Weltpolitik“ sei. Mit der Rückkehr der „deutschen Frage“ in Europa erhält seine Einschätzung eine tragische Aktualität. Das Problem ist diesmal kein entfesselter Militarismus wie in den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts oder eine Angst vor deutscher Dominanz wie im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1989. Stattdessen klaffen heute die Sicht des politischen Deutschlands auf sich selbst und die Herausforderungen der Zeit auf fatale Weise auseinander. Als der große Europäer und frühere Bundeskanzler Willy Brandt seinen Anspruch an gute Politik drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer formulierte, mag er eine solche Situation vor Augen gehabt haben: „Jede Zeit will eigene Antworten und man hat auf ihrer Höhe zu sein, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Was dieser Tage in Deutschland zur Disposition steht, ist eine wirtschaftspolitische Orthodoxie, die nur noch nach deutschen Maßstäben „auf der Höhe der Zeit“ ist. Ein solcher nationaler Referenzrahmen wird jedoch weder den eigenen noch den europäischen oder globalen Ansprüchen gerecht.

Fußnoten
18

Luc Kerren: Europa und die deutsche Frage. Wiederkehr der Geschichte? Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden 2022, ISBN 9783658372729.

Magnus G. Schoeller und Sebastian Heidebrecht: Continuity despite crises. Germany’s euro policy in the light of the pandemic, war and inflation. In: Journal of European Public Policy. 2023, S. 1–25. https://doi.org/10.1080/13501763.2023.2218883.

Zwar verkündete das Kabinett Merkel IV (2018-21) bereits 2019 im Rahmen der Nationalen Industriestrategie (2019), interventionistischer und offensiver in die Gestaltung der Wirtschaft investieren zu wollen. Doch die Zurückhaltung bei der Schuldenaufnahme und die Weigerung, Mittel für langfristige Investitionen über Steuererhöhungen am oberen Ende der Einkommens- und Vermögenspyramide zu finanzieren, unterlaufen auch in der Nachfolgeregierung die selbst gesteckten Ziele. Siehe auch Etienne Schneider: Germany’s Industrial strategy 2030, EU competition policy and the Crisis of New Constitutionalism. (Geo-)political economy of a contested paradigm shift. In: New Political Economy. Band 28, Nr. 2, 2023, S. 241–258. https://doi.org/10.1080/13563467.2022.2091535; Julian Germann: Global rivalries, corporate interests and Germany’s ‘National Industrial Strategy 2030’. In: Review of International Political Economy. Band 30, Nr. 5, 2023, S. 1749–1775. https://doi.org/10.1080/09692290.2022.2130958.

Ha‐Joon Chang und Antonio Andreoni: Industrial Policy in the 21st Century. In: Development and Change. Band 51, Nr. 2 2020, S. 324–351. https://doi.org/10.1111/dech.12570; Karl Aiginger und Dani Rodrik: Rebirth of Industrial Policy and an Agenda for the Twenty-First Century. In: Journal of Industry, Competition and Trade. Band 20, Nr. 2, 2020, S. 189–207. https://doi.org/10.1007/s10842-019-00322-3; Reda Cherif und Fuad Hasanov: The Return of the Policy that Shall Not Be Named. Principles of Industrial Policy. In: IMF Working Paper. No. 19/74 2019. https://www.imf.org/en/Publications/WP/Issues/2019/03/26/The-Return-of-the-Policy-That-Shall-Not-Be-Named-Principles-of-Industrial-Policy-46710.

Die Ökonomin Daniela Gabor spricht von einem „De-Risking State“, der sich in den entwickelten kapitalistischen Ländern Europas und Nordamerikas zur Bekämpfung der Klimakrise herausgebildet habe. Das Problematische an diesem Modell, das in verschiedenen Ausprägungen existiere, sei dabei die Art der staatlichen Absicherung privater Investitionen. Als Sicherheiten dienten beispielsweise komplexe Finanzmarktarchitekturen, Beteiligungen an grünen Schlüsseltechnologien, aber auch die Privatisierung öffentlicher und sozialer Infrastrukturen, die dadurch teilweise oder ganz der staatlichen Verfügungsgewalt entzogen würden.

Siehe auch Giuseppe Mastromatteo und Sergio Rossi: The economics of deflation in the euro area. A critique of fiscal austerity. In: Review of Keynesian Economics. Band 3, Nr. 3, 2015, S. 336–350. https://doi.org/10.4337/roke.2015.03.04.

Ricardo Duque Gabriel, Mathias Klein und Ana Sofia Pessoa: The Political Costs of Austerity. In: Review of Economics and Statistics. 2023, S. 1–45. https://doi.org/10.1162/rest_a_01373.

Philipp Heimberger: Do higher public debt levels reduce economic growth? In: Journal of Economic Surveys. Band 37, Nr. 4, 2023, S. 1061–1089. https://doi.org/10.1111/joes.12536.

Björn Bremer und Reto Bürgisser: Do citizens care about government debt? Evidence from survey experiments on budgetary priorities. In: European Journal of Political Research. Band 62, Nr. 1, 2023, S. 239–263. https://doi.org/10.1111/1475-6765.12505.

Julian Germann: Beyond ‘Geo-Economics’. Advanced Unevenness and the Anatomy of German Austerity. In: European Journal of International Relations. Band 24, Nr. 3, 2017, 590-613. https://doi.org/10.1177/1354066117720987.

Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I. Suhrkamp, Berlin 2018, ISBN 9783518127179.

Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp, Berlin 2023, ISBN 9783518029848.

Julian Germann: Unwitting Architect. German Primacy and the Origins of Neoliberalism. Stanford University Press, Stanford, California 2021, ISBN 1503614298.

Alan Cafruny und Leila Simona Talani: German Ordoliberalism and the Future of the EU. In: Critical Sociology. Band 45, Nr. 7-8, 2019, S. 1011–1022. https://doi.org/10.1177/0896920519837334.

Für die Rolle Deutschlands bei der Aufrechterhaltung dieser Ungleichgewichte siehe Kapitel 5 in Matthew C. Klein und Michael Pettis: Trade Wars Are Class Wars. How Rising Inequality Distorts the Global Economy and Threatens International Peace. Yale University Press, New Haven, London 2020, ISBN 9780300244175.

David Howarth und Joachim Schild: Nein to ‘Transfer Union’. The German brake on the construction of a European Union fiscal capacity. In: Journal of European Integration. Band 43, Nr. 2, 2021, S. 209–226. https://doi.org/10.1080/07036337.2021.1877690; Magnus G. Schoeller und Olof Karlsson: Championing the ‘German model’? Germany’s consistent preferences on the integration of fiscal constraints. In: Journal of European Integration. Band 43, Nr. 2, 2021, S. 191–207. https://doi.org/10.1080/07036337.2021.1877697.

Siehe insbesondere Part IV in Joseph E. Stiglitz: The Euro. How A Common Currency Threatens The Future of Europe. W. W. Norton & Company Incorporated, New York 2016, ISBN 9780393254037.

Robert W. Cox: Social Forces, States and World Orders. Beyond International Relations Theory. In: Millennium - Journal of International Studies. Band 10, Nr. 2, 1981, S. 126–155. https://doi.org/10.1177/03058298810100020501.

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