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Gendern mit Grips statt Schreiben in Gips. Praktische Argumente für ein flexibles Gendern

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Gendern mit Grips statt Schreiben in Gips. Praktische Argumente für ein flexibles Gendern

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Geschrieben von Deborah Arbes

Bei te.ma veröffentlicht 21.03.2023

te.ma DOI 10.57964/5v4p-bn25

Geschrieben von Deborah Arbes
Bei te.ma veröffentlicht 21.03.2023
te.ma DOI 10.57964/5v4p-bn25

Wie soll in der Schule und im Deutschunterricht gegendert werden? Verlage und Autor*innen treffen diesbezüglich Entscheidungen, die Auswirkungen auf die Lehre haben. Der Friedrich Verlag gibt Autor*innen die Möglichkeit, „Signale zum Gendern zu setzen“. Was dafür die Grundlagen sind und welche Folgerungen und Vorschläge sich daraus ergeben, erläutert Helmuth Feilke in seinem Essay.

Helmuth Feilke, Professor für Germanistik und Mitherausgeber der Zeitschrift Praxis Deutsch, sieht im Gendern ein sprachliches Signal des Respekts, der Wertschätzung und der Höflichkeit. Diese Tugenden spielen auch im Schulunterricht eine Rolle. Für das Gendern im Deutschunterricht gab es lange Zeit keine Leitlinien dafür, was als korrekt oder akzeptabel gilt. In seinem Essay Gendern mit Grips statt Schreiben in Gips widmet sich Feilke diesem Thema und stellt Lösungen für ein flexibles Gendern vor. 

Zunächst analysiert er die Pragmatik, Semantik und Grammatik des Genderns. Aus jedem Bereich ergeben sich Forderungen für die Anwendung und den Umgang mit gendersensibler Sprache im Unterricht. Um Feilkes Herangehensweise nachvollziehen zu können, ist zunächst der Bereich Pragmatik am wichtigsten. 

Seine Prämisse: Gendern ist Kommunikation von Respektsignalen. Es gelte heutzutage als unhöflich, eine gemischte Gruppe mit „Meine Herren“ anzusprechen. Auch in anderen Situationen könne es wichtig sein, geschlechtsneutrale Formulierungen zu wählen, um niemanden auszuschließen oder zu diskriminieren. Um die Signalwirkung zu erhalten, sollten Formulierungen mit Doppelnennungen oder Binnen-I jedoch nicht inflationär verwendet, sondern gezielt an prominenten Stellen im Text platziert werden. Gleichzeitig betont Feilke aber auch das Prinzip der Freiwilligkeit: „Mit Vorschriften ist im Blick auf Respektkommunikation auch didaktisch nichts zu gewinnen.“ Dies erscheint im Schulkontext überraschend, da viele Regeln, die mit Respekt zu tun haben, in der Schule gelehrt und durchgesetzt werden – z.B. das Siezen oder die gemeinsame Begrüßung.

Den Semantik-Teil beginnt Feilke mit der Forderung, sich von der Vorstellung zu verabschieden, „die Sprache müsse und könne Geschlechterverhältnisse gerecht und möglichst genau abbilden“. Sprache erhalte erst durch den Kontext ihre Bedeutung und auf den komme es an. Obwohl er Forschungsergebnisse anerkennt, die generisch maskulinen Formen einen male bias attestieren1, warnt er davor, diese im Sinne eines Sprachdeterminismus zu interpretieren. Geschlechterstereotype seien auch dort vorhanden, wo neutrale Formen wie „Führungskraft“ verwendet werden2.

Die Folgerung (beispielhaft signalartig gegendert): „Weil der Kontext so wichtig ist für das Verstehen, tragen Sprecher:innen Verantwortung dafür, dass ihre Adressaten die notwendigen Kontextinformationen bekommen.“ Weiterhin gelte jedoch auch das Prinzip der Nachsichtigkeit. Sprache kann nicht jedes Detail abbilden und Feilke appelliert an den sogenannten „common sense“ und die Bereitschaft, das Geschriebene auch verstehen zu wollen. Damit adressiert er auch diejenigen, die Partizipien nicht als geschlechtsneutrale Option akzeptieren, weil sich Nomen wie „Studierende“ vermeintlich nur auf diejenigen bezögen, die diese Tätigkeit jetzt gerade ausführen. Er schreibt: „Auch ein nominalisiertes Partizip kann überzeitlich generisch interpretiert und dann auch verstanden werden“.  

Auch im Bereich der Grammatik findet Feilke einen Mittelweg. Zunächst konstatiert er, dass Genderstern, Gendergap und Doppelpunkt normativ falsche Schreibvarianten seien. Deren Signalwert sei aber für viele so wichtig, dass der Wunsch nach grammatikalischer Korrektheit demgegenüber in den Hintergrund trete. Am Ende plädiert der Autor dafür, „Genderschreibweisen nicht als orthografische Fehler zu werten“, da sie bewusst und konventionell eingesetzt werden.

Aber wo sind gegenderte Formen (mit oder ohne Sonderzeichen) überhaupt notwendig? Feilke unterscheidet vier Arten von Referenzen: 

· Individuenreferenz: Das richtige grammatische Genus zu wählen ist meist unproblematisch, wenn es sich um eine einzelne Person handelt und das Geschlecht bekannt ist („Meine Ärztin hat gesagt …“, „mein Arzt hat gesagt …“)3.

· Gruppenreferenz: Vor allem bei gemischtgeschlechtlichen Gruppen stellt sich die Frage, wie auf die Beteiligten referiert werden kann („Die Ärzt:innen setzen sich für eine verbesserte Integration von Beruf und Familie ein“).

· Rollenreferenz: Diese liegt vor, wenn auf eine Funktion, einen Beruf oder eine Rolle Bezug genommen wird und nicht auf ein bestimmtes Individuum („der Fahrzeughalter“, „Mädchen sind oft die besseren Schüler“, „[…] der Arztberuf“, „Gesellenbrief“, „Bürgermeisterin […]“).

· pronominalgenerische Referenz: Pronomen wie „wer”, „jeder” oder „seine” tauchen oft in Sprichwörtern und im alltäglichen Sprachgebrauch auf. Die maskuline Form sollte laut Feilke in diesem Bereich geschlechterübergreifend interpretiert werden („Wer seine Geldbörse verloren hat, der soll sich an der Rezeption melden“).

Gendern, so der Autor, sei nur in den ersten beiden Kategorien notwendig, da in der Rollenreferenz und der pronominalgenerischen Referenz kein Sexusbezug vorliege. Diese Behauptung wirkt etwas verkürzt und wird nicht durch Quellen gestützt. Analysen von Ewa Trutkowski4 und Helmut Weiß5 liefern ein genaueres Bild über die Relation von Genus und Sexus und welche Kombinationen im Deutschen als akzeptabel gelten. Auch Ursula Doleschal geht kurz auf Pronomen wie „jeder“, „jemand“ und „niemand“ ein und belegt, dass die Generizität von maskulinen Pronomen auf „Empfindungen“ beruht – und diese sind ja bekanntlich individuell unterschiedlich. 

Feilke räumt selbst ein, dass die Rollenreferenz manchmal nur schwer von Gruppen- oder Individualreferenz zu unterscheiden ist. Dennoch schlägt er für diese Referenzarten die Möglichkeit des generischen Maskulinums vor: „Wir halten also nichts von Versuchen, das generische Maskulinum generell zu diskreditieren. Es hat wie alle generischen Beugungsformen (Präsens, Singular, Maskulinum) eine wichtige semantische Funktion.“

Bei Gruppenreferenzen zeige das generische Maskulinum jedoch seine Schwächen, denn es „kann eine sexusgenerische Referenz oft nicht artikulieren“. So entstehen möglicherweise Missverständnisse, wenn nicht klar wird, ob tatsächlich eine gemischtgeschlechtliche Gruppe gemeint ist. In diesem Bereich plädiert Feilke für flexibles Gendern mit Signalwirkung, z.B.:

„Alle Schreiber:innen haben sich mit ihren Tablets und Notebooks zu ihrem zweiten Zoom-Treffen verabredet, bei dem jeder seinen Text vorstellen soll.“

Weil das Nomen Schreiber:innen den Kontext herstellt, dass Schreibende jeden Geschlechts gemeint sind, bewertet Feilke die Verwendung der maskulinen Formen jeder und seinen als zulässig, weist aber auch auf die Möglichkeit hin, stattdessen das Pronomen alle zu verwenden und im Plural fortzufahren.

Im Fazit betont der Autor noch einmal die Wichtigkeit von Freiheit und Autonomie, um einen verantwortungsvollen Sprachgebrauch zu entwickeln. Sprache solle nicht als starres Gefüge gesehen werden, „das das Weltbild der Sprecher:innen im Sinn einer bestimmten – etwa männlich dominierten – Weltsicht beeinflusst“.

Für den schulischen Kontext, in dem Regeln und Normen für gewöhnlich eine große Rolle spielen, wirkt der Essay trotz seiner deutlichen Forderungen erfrischend undogmatisch. Sowohl Argumente für das generische Maskulinum und gegen das „pedantische Durchdeklinieren“ als auch Argumente für gendersensible Sprache werden aufgegriffen und eingeordnet. Durch die klare Struktur des Essays und die Trennung der Referenzen erscheinen die Forderungen fundiert und nachvollziehbar. Es bleibt offen, inwiefern die vorgeschlagenen Kompromisse Anklang finden werden. Gegnern von Genderzeichen geht die Forderung, diese im Schulkontext zu erlauben, vielleicht zu weit, während sich Vertreter*innen gendersensibler Sprache im Bereich der Rollen- und Pronominalreferenz möglicherweise nicht gesehen fühlen. Feilkes Konzept eines flexiblen Genderns für Signalwirkung und Respektkommunikation bietet jedoch Anknüpfungspunkte für beide Seiten und lädt zum Dialog ein.

Fußnoten
5

Kotthoff, Helga / Nübling, Damaris: Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr 2018.

Ebd.

Die Beispiele in Klammern sind dem hier besprochenen Essay entnommen.

Ewa Trutkowski:Wie generisch ist das generische Maskulinum? Über Genus und Sexus im Deutschen. In: ZAS Papers in Linguistics 59, 2018: S. 83 – 9

Ewa Trutkowski & Helmut Weiß: Zeugen gesucht! Zur Geschichte des generischen Maskulinums im Deutschen. In: Linguistische Berichte 273, 2023 S. 5-40

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