Die Fragen stellten Alexandra Sitenko und Sebastian Hoppe aus der Fachkuration des Kanals Ukraine: Krieg
AS: Herr Sporrer, trotz aller diplomatischen Bemühungen, die seit der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbass im Jahr 2014 unternommen wurden, ist es zur russischen Invasion gekommen. Noch Anfang des Jahres hatten die wenigsten einen Krieg für möglich gehalten. Sie haben den
WS: Minsk war ein Friedensprozess, der nicht zu Frieden, sondern letztendlich zu mehr Krieg geführt hat. Gescheitert ist er meines Erachtens daran, dass keine der Seiten irgendein Interesse an der Umsetzung hatte. Auch wenn durchaus eine Beruhigung des Konflikts eingetreten ist.
Während der vergangenen acht Jahre gab es keine Bemühungen und auch keine Erfolge der russischen und separatistischen Seite, die Sicherheitsaspekte der Minsker Vereinbarungen zu erfüllen. Es gab nie einen dauerhaften Waffenstillstand, es gab kein richtiges
Minsk hat keiner Seite das gegeben, was sie eigentlich wollte. Russland wollte meines Erachtens niemals die Kontrolle über den Donbass oder den Zugewinn von Land an sich. Russland wollte die politische Kontrolle über Kiew, und zwar vor allem über die ukrainische Außenpolitik. Und die Ukraine wollte in Wirklichkeit keine Autonomie des Donbass, weil Russland dadurch den gewünschten Einfluss bekommen hätte.
„Minsk war ein Friedensprozess, der nicht zu Frieden, sondern letztendlich zu mehr Krieg geführt hat.“
AS: Hat es dennoch Erfolge gegeben?
WS: Auf jeden Fall hat der Prozess auch Resultate gebracht. Die neue Brücke in
Ich möchte noch einen Aspekt erwähnen, der selten erwähnt wird. Es handelt sich nicht um einen politischen, sondern einen praktischen Aspekt. Minsk ist auch gescheitert, weil man sich seit Anfang 2020 nicht mehr persönlich getroffen hat. Es gab seitdem keine Verhandlungen vor Ort, sondern nur online. Doch gerade bei solch schwierigen Verhandlungen, in denen sowieso Vertrauen fehlt, können Kaffee- und Mittagspausen wichtig sein, so banal das klingen mag. Der Mediator kann zu allen beteiligten Gruppen gehen und persönlich mit ihnen reden. Der Umstand, dass man sich nicht mehr persönlich getroffen hat, spielte sicherlich eine nicht unerhebliche Rolle darin, dass sich der Prozess so negativ entwickelt hat und so spektakulär gescheitert ist.
„Minsk ist auch gescheitert, weil man sich seit Anfang 2020 nicht mehr persönlich getroffen hat. Es gab seitdem keine Verhandlungen vor Ort, sondern nur online.“
AS: Wie sehen Sie die Rolle der EU in der Vorgeschichte des Krieges und beim Scheitern des Minsker Prozesses? Gab es Gelegenheiten oder Zeitfenster, die nicht genutzt wurden?
WS: Die Rolle der EU war in den Verhandlungen der
Es gab einen wirklich großen Wunsch nach Frieden. Aber da sowohl die EU als auch die Weltgemeinschaft gegenüber dem Abkommen sehr gespalten war, wurden die Bemühungen des Normandie-Formats teilweise unterlaufen. Während ein Teil der EU wirklich eine Implementierung des Minsker Abkommens wollte, meinte ein anderer Teil immer stillschweigend, die Ukraine müsse die politischen Regelungen von Minsk, inklusive der Verfassungsänderung, nicht wirklich umsetzen.
Bekommt man dann als Ukraine solche widersprüchlichen Signale, so gibt es keinen wirklichen Druck, das Abkommen zu implementieren. Wenn wir jedoch sagen, wir wollen die Umsetzung von Minsk, dann meinen wir eigentlich die Implementierung jedes einzelnen Punktes des Abkommens – und zwar von allen Seiten, die unterschrieben haben. Diese Botschaft war allerdings nie wirklich klar. Da könnte man vielleicht auch innerhalb der EU die Frage nach eigenen Versäumnissen stellen.
AS: Es gibt die Sichtweise, dass der derzeitige Krieg seit der Krim-Annexion vorprogrammiert war. Alles habe sich langsam, aber stetig in diese Richtung bewegt. Wie sehen Sie das?
WS: Man muss klar sagen, dass dieser Krieg durch eine unilaterale Entscheidung der Russischen Föderation begonnen wurde. Deshalb ist eine Darstellung dieses Krieges als historisch notwendiger Kulminationspunkt meines Erachtens überhaupt nicht zutreffend. Ich glaube, es gab während der letzten Jahre viele Möglichkeiten für Russland wie auch die Ukraine, die Spannungen zu dämpfen. Es gab mehrere Chancen für Konfliktmanagement. Am Ende des Tages hätte Russland nicht angreifen müssen. Es war eine völlig illegale, unilaterale, nicht provozierte und ohne jeden Druck von außen erfolgte Entscheidung, die Ukraine zu überfallen. Die Darstellung, dass dieser Krieg unabwendbar war und früher oder später sowieso hätte ausbrechen müssen, macht keinen Sinn.
„Es gab mehrere Chancen für Konfliktmanagement. Am Ende des Tages hätte Russland nicht angreifen müssen.“
AS: Wie hätte der Krieg verhindert werden können? Kann uns die Perspektive des Konfliktmanagements hier weiterhelfen?
WS: Das Konfliktmanagement kennt viele verschiedene Arten der Prävention und Frühwarnung. Es gab ja auch kaum jemals mehr Frühwarnungen als in diesem Konflikt. Ich gehöre zu denen, die bis zum 24. Februar 2022 gesagt haben: Da wird kein Krieg kommen! Ich habe mich da sehr stark geirrt, das gebe ich zu. Hätte man in Europa zwei oder drei Monate vor dem 24. Februar 2022 realisiert, dass der Krieg kommt, hätte man international, etwa bei der UNO, mehr machen und z.B. mit Russland und der Ukraine einen Verhandlungsprozess einleiten können.
Das sind aber historische Spekulationen. Um einen Verhandlungsprozess sozusagen ex post zu denken, müsste man wissen, was das russische Interesse vor dem Einmarsch war. Was wollte Russland idealerweise und mindestens erreichen? Das Gleiche müsste man auch von der Ukraine wissen: Wie viel von dem Maximum, das jetzt als Sieg definiert wird, war man bereits damals bereit, auf einem Schlachtfeld zu erreichen?
Ich kann nur eines sagen: Die Verhältnisse haben sich in den letzten acht Monaten stark verändert. Russland wird sich heute auch mit sehr viel weniger als zu Kriegsbeginn zufriedengeben. Und die Ukraine fordert heute mehr, als sie noch am 24. Februar für eine Beendigung der Feindseligkeiten gefordert hat. Analytisch kann man durchaus sagen, wie die Interessenlage ist. Diese hat sich bereits jetzt stark zugunsten der Ukraine und stark zuungunsten Russlands entwickelt.
SH: Aus der Forschung zur russischen Innenpolitik wissen wir, dass die wichtigsten Entscheidungen in Moskau oft informell getroffen werden. Staatliche Institutionen spielen in einem derart personalisierten Herrschaftssystem eher eine untergeordnete Rolle. Kann man unter diesen Umständen noch die Annahme einer professionellen Diplomatie aufrechterhalten, mithilfe derer man einen Konflikt managen kann? Oder ist die Diplomatie in Russland zur Farce verkommen?
WS: Zurzeit ist die Diplomatie in Russland in der Tat eine Farce. Ich glaube, dass das Außenministerium in der Entscheidungsfindung des Kremls praktisch keine Rolle mehr spielt und die Diplomatie bei der Vorbereitung des Krieges ignoriert wurde. Das ist konsistent mit der Ukraine-Politik Russlands, auf die das Außenministerium in den letzten acht Jahren nie wirklich Einfluss hatte. Die Ukraine-Politik wurde stets aus dem Kreml heraus geleitet, etwa durch Wladislaw Surkow oder
Sobald die Dinge jedoch schlecht laufen, kann man beobachten, dass Putin dazu neigt, die Politik wieder in die Hände der Profis zu legen. Derzeit sieht man das im Militärischen. Jetzt, da die Dinge wirklich schlecht stehen, hat Putin die Kriegsführung den Generälen überlassen, zum Beispiel in Cherson. Politisch ist das für Putin vermutlich eine Katastrophe, aber militärisch wahrscheinlich das Richtige. Möglicherweise sichert er somit zumindest zeitweise die Front.
Wenn also außenpolitisch alles auf Messers Schneide steht, könnte Putin den Profis im Außenministerium wieder eine größere Rolle zugestehen. Ist das russische Außenministerium derzeit down and out? Ja. Ob das so bleibt, ist vorerst unklar.
„Wenn also außenpolitisch alles auf Messers Schneide steht, könnte Putin den Profis im Außenministerium wieder eine größere Rolle zugestehen.“
SH: Die Wege aus dem Krieg werden heute sehr schematisch dargestellt – entweder Krieg, bis ein Sieger gefunden ist, oder Verhandlungsfrieden. Wenn man auf die Rhetorik der Verachtung sowohl auf ukrainischer als auch russischer Seite schaut – ist überhaupt an einen Verhandlungsweg zu denken?
WS: Daran ist immer zu denken. Und einen Verhandlungsweg gibt es ja bereits. Wie wichtig der ist, haben wir gerade in den letzten Wochen bei der
Einer der größten Fehler, der von Menschen gemacht wird, die für Waffenstillstand und Frieden eintreten, ist über mögliche Endresultate zu sprechen. Derjenige, der von potenziellen Endresultaten oder -kompromissen spricht, wird sofort so toxisch, dass er für mindestens eine der Parteien nicht mehr als akzeptabler Vermittler gilt. Alle denkbaren Endszenarien werden zu diesem Zeitpunkt zurückgewiesen werden.
Deshalb ist es wichtig, einen Prozess und nicht ein Endresultat vor Augen zu haben: kleine Schritte, die für beide Seiten hinnehmbar sind. So kann eine Art von Vertrauen unter den Verhandlungsdelegationen hergestellt werden. Kein guter Mediator kommt daher und sagt: „So, das ist der Vertrag, jetzt einigt euch bitte darauf.“ Ein guter Mediator sagt: „Das ist ein ergebnisoffener Prozess. Und meine Rolle besteht darin, kleine Vorschläge zu machen.“ Vom Endresultat her zu argumentieren, hat überhaupt keinen Sinn.
„Deshalb ist es wichtig, einen Prozess und nicht ein Endresultat vor Augen zu haben: kleine Schritte, die für beide Seiten hinnehmbar sind.“
AS: Was könnten das für kleine Schritte sein? Womit könnte man anfangen?
WS: Angefangen hat man ja bereits mit dem Getreide-Deal. Man könnte das auf andere Produkte ausweiten. Dann könnte man fragen, woran beide Seiten gerade am meisten leiden. Ich glaube, dass es der Ukraine schon sehr wichtig wäre, dass die Zerstörung der zivilen Infrastruktur aufhört.
Ohne ein Ende zu definieren, könnte der Prozess so ausschauen. Erstens:
Ich denke nicht, dass die beiden Kriegsparteien oder speziell die Ukraine tatsächlich so verhandlungsunwillig sind, wie das öffentlich erklärt wird. Es gibt viele Ideen, über die man verhandeln könnte: Disengagement, Gefangenenaustausch, Schutz von Kraftwerken, Schutz von gewissen Chemiefabriken. Eine solche geheime Shuttle-Diplomatie müsste von einem anerkannten Mediator geleitet werden. Das kann leider niemand aus der EU sein, da diese von der russischen Seite als Kriegspartei gesehen wird. Denkbar wäre eine türkisch-brasilianisch-chinesische oder rein türkische Kontaktgruppe.
„Eine geheime Shuttle-Diplomatie müsste von einem anerkannten Mediator geleitet werden. Das kann leider niemand aus der EU sein, da diese von Russland als Kriegspartei gesehen wird.“
SH: Es gibt die These, dass Verhandlungen ohne die Beteiligung der USA keinen Sinn machen würden. Washington müsste also eine Schlüsselrolle zukommen. Sehen Sie das anders?
WS: Washington und die EU-Staaten sind natürlich für die Ukraine unverzichtbar. Ohne europäische Waffenlieferungen wären die militärischen Erfolge der Ukraine unmöglich. Aber auch etwas anderes ist wichtig: Ohne Unterstützung des laufenden ukrainischen Staatsbudgets – man nennt das „macro-economic assistance“ – wäre die Ukraine nicht in der Lage, den Krieg weiterzuführen. Natürlich sind daher die USA und die EU bei Verhandlungen unverzichtbar, allerdings nicht als Vermittler oder Mediatoren. Eine solche Rolle würde von Russland strikt abgelehnt werden.
SH: Bereits vorhandene Verhandlungserfolge, potenzielle Mediatoren, militärische Abnutzungserscheinungen: Sie würden also nicht sagen, dass dieser Krieg so besonders ist, dass Verhandlungen überhaupt nicht möglich sind?
WS: Jeder Krieg ist komplex und besonders. Und in jedem Krieg sind Verhandlungen möglich, wie man das eben beim Getreide-Deal gesehen hat. Dem Deal gingen Verhandlungen voraus, er wurde von der UNO und der Türkei nicht oktroyiert. Was in praktisch jedem bewaffneten Konflikt vorkommt, ist, dass beide Seiten Verhandlungen ausschließen. Das ist normal in Mediationsprozessen. Denn öffentliche Verhandlungsbereitschaft bedeutet Schwäche. Gleichzeitig hat natürlich jede Seite ein Interesse, das Ganze so gut wie möglich zu beenden. Jede Konfliktpartei hat ihren eigenen Calculus, was dieses „so gut wie möglich“ ist.
AS: Sie haben auf Twitter neulich für eine Abrüstung der Sprache in diesem Krieg plädiert. Meinen Sie die Sprache auf höchster politischer Ebene oder die breite nationale und internationale Debatte?
WS: Ich möchte nicht die höchste politische Ebene ansprechen, weil das eine zu allgemeine Aussage wäre, die so nicht stimmt. Ich habe viele Statements, zum Beispiel von Bundeskanzler Scholz, gelesen, die sehr diplomatisch durchdacht waren und sind. Ich habe jedoch den Eindruck, dass wir von einer großen Öffentlichkeit umgeben sind, die wenig Ahnung von der Ukraine und von Russland hat und dementsprechend radikale Meinungen äußert. Je weniger man von etwas versteht, desto stärker werden die Meinungen. Viele Menschen werden durch diese aufgeheizte Atmosphäre abgeschreckt, sich stärker in die Öffentlichkeit zu stellen.
„Ich habe den Eindruck, dass wir von einer großen Öffentlichkeit umgeben sind, die wenig Ahnung von der Ukraine und von Russland hat und dementsprechend radikale Meinungen äußert.“
Es gibt in Diskussionen auf Social Media immer wieder die Unterstellung, dass die Meinung, die geäußert wird, nicht aus einer Analyse und aus dem Herzen kommt, sondern dass der jeweilige Schreiber oder die jeweilige Schreiberin in Diensten von jemandem steht oder von jemandem bezahlt wird. Insgesamt finde ich den Diskurs in der angelsächsischen Welt wesentlich nuancierter. In Foreign Affairs oder in Foreign Policy haben Sie Artikel, die ein breites Meinungsspektrum abdecken, von „Verhandlungen mit Putin jetzt“ bis „der Krieg ist dann vorbei, wenn die Ukraine sagt, dass er vorbei ist“. Dieses breite Meinungsspektrum gibt es wahrscheinlich auch im deutschsprachigen Diskurs, aber es hat nicht dieselbe Prominenz. Das finde ich schade.