In Krisen, zumal den kriegerischen, mangelt es nicht an großen politischen Erzählungen. Europas Politiker, Intellektuelle und Kommentatoren machen da keine Ausnahme. Der russische Angriff auf die Ukraine fordere die EU heraus, heißt es, geopolitisch, wirtschaftlich, aber auch moralisch. Optimistische Stimmen sehen darin – wie bei jeder Krise nach dem Zweiten Weltkrieg – für das europäische Projekt zugleich die Chance, den nächsten notwendigen Integrationsschritt zu gehen.
In Anbetracht des langen Krisenjahrzehnts, in dem sich die EU seit 2008 befindet, stellt sich die Frage: Worin soll eigentlich dieser Schritt bestehen? Die Meistererzählungen der EU als Friedens-, Krisen-, Wirtschafts- oder Verrechtlichungsprojekt bieten mittlerweile nur noch wenig Orientierung, wurden sie doch mit der Finanz-, Euro-, Migrations- und nun der Ukraine-Krise schwer erschüttert.
Aber eine politische Gemeinschaft wird nicht nur durch ihre offiziellen Erzählungen bestimmt. Oft ist es gerade das Unausgesprochene und dennoch Offensichtliche, das sich in Krisen Bahn bricht. Es gerinnt zu Begriffen und wird schließlich Politik. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat einmal mehr verdeutlicht, dass es ein „politisch Unbewusstes“ gibt, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Europas miteinander verbindet.
Spätestens mit der Osterweiterung der EU 2004, dem Kyjiwer
Verdrängte Imperialität
Europäische Politiker reagieren auf diese Fragen instinktiv mit defensiver Rhetorik. So war das Plädoyer der 2019 eingesetzten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für eine „geopolitische Kommission“ weniger ein Programm zur pro-aktiven Ausgestaltung der europäischen Politik als vielmehr der Versuch einer Reaktion auf die zahlreichen Krisen (der globalen „Polykrise“, wie es der Historiker Adam Tooze ausdrückt), denen die Union gegenübersteht. Auch als der ehemalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso 2007 die politische Strahlkraft der Union herausstellte, kam er nicht umhin, die EU als „nicht-imperiales Imperium“ zu bezeichnen. Barrosos Einlassung, aus der die Verwunderung über die eigene Erkenntnis sprach, zog zweierlei Reaktionen auf sich: Die einen kritisierten seinen Größenwahn, andere die Widersprüchlichkeit und damit die Unbrauchbarkeit der Aussage.
Stimmen, die sich positiv über die Idee eines imperialen Europas auslassen, sind rar. Jemand wie Guy Verhofstadt, das Sprachrohr der liberalen Fraktion im EU-Parlament, steht mehr oder weniger allein auf weiter Flur: Ihm zufolge zeige sich im 21. Jahrhundert immer deutlicher, dass „die Weltordnung von morgen auf Imperien beruht“ – die Gesellschaften der EU könnten „ihren Lebensstil nur verteidigen, wenn sie dies gemeinsam in einem europäischen Rahmen tun“. Bedenkt man, dass im Jahr 2050 40 Prozent der Weltbevölkerung in lediglich vier Herrschaftsgebieten – Indien, China, die USA und die EU – leben werden, ist diese Aussage nicht vollkommen unplausibel.
„Das Label des Imperialen löst selbst bei Befürwortern einer umfassenden EU-Integration meist nur ablehnendes Kopfschütteln aus.“
Das Label des Imperialen löst jedoch selbst bei Befürwortern einer umfassenden EU-Integration meist nur ablehnendes Kopfschütteln aus. „Die Europäer“, brachte es Timothy Garton Ash jüngst in einem aufsehenerregenden Artikel für Foreign Affairs auf den Punkt, „sind es nicht gewohnt, sich selbst durch die Linse des Imperiums zu betrachten“.
Die Gegenwart des Imperialen in Europa
Andererseits ist die Idee, die EU als Imperium zu begreifen, auch nicht erst heute aufgekommen.
Schaut man auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften, so scheinen sie weniger Hemmungen zu haben als die Politik, die EU imperial zu denken. Sie korrigieren die weitverbreitete Vorstellung, das Modell der supranationalen Union sei eine Antithese zum Imperialen. Denn weder handelt es sich bei Imperien notwendigerweise um kriegführende Gebilde der autokratischen Rechtlosigkeit.
„Die Geschichts- und Sozialwissenschaften korrigieren die Vorstellung, das Modell der supranationalen Union sei eine Antithese zum Imperialen. “
In der Regel werden in der Forschung drei Faktoren genannt, die die Bezeichnung eines „Imperiums EU“ rechtfertigen. Erstens habe sich in der EU ein Zentrum-Peripherie-Modell etabliert, in dem es zu starken Gefällen in der Verteilung von Macht, ökonomischen Ressourcen und Rechten zwischen den „alten“ europäischen Kernländern und den Mitgliedern im Westen, Süden und vor allem Osten komme.
Damit eng verknüpft ist, drittens, ein selbstbewusst vorgetragener Diskurs europäischer Zivilisation, die es in die Welt zu tragen gelte.
Ungleiche imperiale Revivals
Akzeptiert man die These der imperialen Selbstleugnung Europas, so stellt man fest, dass es sich dabei global gesehen um eine Ausnahme handelt. Denn tatsächlich erlebt das 21. Jahrhundert ein überraschendes imperiales Revival, das allerdings besser als durch den Begriff des „Imperiums“ oder des „Imperialismus“ durch den der „Imperialität“ auf den Punkt gebracht werden kann. Imperialität betont weniger territoriale Konstellationen und Expansion, sondern politisch und gesellschaftlich wirkmächtige imperiale Denkmuster und historische Präfigurationen, „die es zu erfüllen“ gelte.
Die aktuellen imperialen Projekte zeigen eine erstaunliche Bandbreite: Ihr Selbstverständnis reicht von der US-amerikanischen „indispensable nation“ über das chinesische „Reich unter der Sonne“ bis zur „russischen Welt“. Die USA etwa haben seit dem 19. Jahrhundert einen stetigen Aufstieg zur demokratischen und kapitalistischen Weltmacht hingelegt. Postmarxistische Autoren wie Michael Hardt und Antonio Negri bezeichnen diese Entwicklung als „empire of capital“, das Imperium des Kapitals.
„Die imperiale Selbstleugnung Europas ist global betrachtet eine Ausnahme.“
Demgegenüber steht die zyklische Imperialität Chinas, die heute mit den globalen Ambitionen der USA zu kollidieren scheint.
Das Russland Wladimir Putins schließlich verfügt im Gegensatz zu den USA oder China (sowie der untergegangenen Sowjetunion) über kein Wirtschaftsmodell, das regionale oder globale Attraktivität ausstrahlt. Projekte wie die
Was ein „Imperium EU“ bedeuten würde
Was das europäische Projekt angeht, so unterscheidet es sich in vielerlei Hinsicht von diesen imperialen Mitbewerbern. Ein Punkt sticht besonders hervor: Die EU ist sowohl ideologisch als auch territorial deutlich unabgeschlossener als andere Imperien.
Die EU selbst hadert daher mit der Anerkennung ihres eigenen imperialen Unterbaus – und erst recht mit Versuchen, auf diesem politisch zu agieren. Gleichzeitig deuten aber die Debatten um eine
Ein selbstbewusstes „Imperium EU“ hätte weitgehende Konsequenzen sowohl für die europäische Innenpolitik als auch für die internationalen Beziehungen. Drei Problemfelder, auf denen die EU bereits jetzt großem Druck und immenser Kritik ausgesetzt ist, würden verstärkt in den Fokus geraten: die demokratische Verfasstheit der Union, das Verhältnis zwischen großen und weniger mächtigen Staaten sowie die Positionierung der EU in einer
„Gelingen der EU in den kommenden Jahren ihre Reformvorhaben, würde sie handlungsfähiger, expansiver und globaler. Kurzum: imperialer.“
Demokratie. Die häufigste und sicherlich schärfste Kritik an der EU seit Beginn des andauernden Krisenjahrzehnts seit 2008 lautet, dass sie
Eine Möglichkeit, gemäß dem Motto „zurück in die Zukunft“, besteht sicherlich darin, den demokratischen Prozess auf die Ebene der Nationalstaaten zurückzuverlagern.
Zentrum vs. Peripherie. Ein „Imperium EU“ würde darüber hinaus noch mehr als bisher verlangen, auf die wachsende Kluft zwischen starken und schwachen, zentralen und peripheren Mitgliedstaaten einzugehen. Hierzu reicht es nicht, wie dies Deutschland in den europäischen Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre zum Leid vor allem südeuropäischer Mitgliedstaaten gefordert hat, auf die „harten“ Regeln der europäischen Verträge zu pochen.
Stattdessen würde das Regieren einer zunehmend größeren und damit auch komplexeren EU eine Mischung aus harten und weichen Mechanismen – sprich: einen „
Kritiker sehen darin die Gefahr, dass die EU unregierbar wird. Andererseits offenbart der Blick in die Geschichte europäischer Imperialität auch Vorzüge einer größeren Flexibilität. Das
Multipolare Welt. Laut einer repräsentativen Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) im April 2023 wünscht sich eine Mehrheit der Europäer im Falle eines Krieges zwischen den USA und China um Taiwan, dass die EU neutral bliebe. Die Befragung ergab auch Mehrheiten für eine EU, die China als Partner behält und begrenzte Kontakte nach Russland pflegt sowie militärisch nicht ausschließlich auf die USA angewiesen und strategisch autonom ist. Die Ergebnisse der Befragung verweisen auf einen interessanten Zusammenhang: Will das „Imperium EU“ demokratisch legitim sein, muss es eine eigenständige Politik auf der globalen Bühne entwickeln.
Diese Eigenständigkeit wird derzeit in drei Richtungen gedacht und kontrovers diskutiert. Zum einen arbeitet die EU aktiv an ihrer strategischen Autonomie, also einer größeren Selbständigkeit in außenpolitischer und nicht zuletzt wirtschaftlicher Hinsicht. Eine solche Autonomie verlangt, zweitens, auch eine selbstbewusste Gestaltung der Beziehungen zu den USA. Vor allem muss die EU für sich festlegen, wie sehr sie sich selbst in der China-Frage der Politik des maximalen Drucks der USA anschließen und letztendlich unterordnen will.
„Im Zentrum der Diskussion um die zukünftige Ordnung Europas steht erneut die „deutsche Frage“.“
Der sprichwörtliche „Motor der europäischen Integration“, das deutsch-französische Tandem, scheint sich derzeit kaum in Richtung einer Realisierung moderner, demokratischer europäischer Imperialität zu drehen. Zwar hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seit 2018 mehrmals weitreichende EU-Reformen angemahnt. Vor allem in Berlin überwiegen jedoch die Stimmen der Zweifler und die Angst vor der eigenen Bevölkerung. Statt eine tiefere Integration als Zukunftsprojekt auf die politische Tagesordnung zu setzen, gibt man dem resignierenden und nationalistischen Zeitgeist nach.
Im Zentrum der Diskussion um die zukünftige Ordnung Europas steht demnach erneut die „
Sebastian Hoppe ist Fachkurator des Themenkanals Umbruch | Krieg | Europa und forscht am SCRIPTS Cluster of Excellence der Freien Universität Berlin zur politischen Ökonomie regionaler Entwicklung in Russland, sozialen und politischen Konflikten in post-sozialistischen Gesellschaften sowie zur Historischen Soziologie internationaler Politik.