Die Erschütterung über den russischen Angriff ist den Teilnehmer*innen der Diskussion vom 9. März 2022 deutlich anzumerken. So sagt der Freiburger Slawist Heinrich Kirschbaum, in seinem Kopf „kursieren keine Thesen, auf der Zunge liegen keine fertigen Formeln. Aufgehoben sind die Grenzen zwischen Analyse und Betroffenheit, Expertise und Einsatz. Die übliche wissenschaftliche Distanz ist nun ohne ethische Wärme undenkbar und sinnlos.“ Trotz des emotionalen Schocks versucht sich das Kolleg an einer ersten Reflexion des Kriegs im Lichte der eigenen multidisziplinären Forschungen zu imperialen und nachimperialen Ordnungen.
Kirschbaum selbst bezeichnet Russlands Angriffskrieg als „nekroimperialen Amok“. Putins Russland, das man bis zum 24. Februar 2022 durchaus als Imperium habe bezeichnen können, habe sich mit dem Krieg auf einen selbstmörderischen Kurs begeben. Der Historiker Dietmar Neutatz hält dagegen: Der Krieg sei der Beweis dafür, dass der russische Imperialismus zurückgekehrt sei. Im Mittelpunkt stehe vor allem der Versuch der gewaltvollen „Wiederherstellung einer russischen Hegemonie im post-sowjetischen Raum“. Der Volkswirtschaftler Tim Krieger geht noch weiter und verweist darauf, dass Russlands Agenda über die unmittelbaren Nachbarstaaten hinausreiche. Putin gehe es in letzter Konsequenz um die „Wiederherstellung des Weltmachtstatus Russlands“. Die Chancen zur Verwirklichung dieser Ziele sind Krieger zufolge allerdings gering. Russland fehle es schlicht an der ökonomischen Basis, um regional oder gar global als Hegemonialmacht auftreten zu können.
Auf die globale Dimension des russischen Imperialismus verweisen auch andere Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion. Die Ostasienhistorikerin Sabine Dabringhaus beleuchtet die chinesische Unterstützung für den Krieg Russlands. Peking sei keineswegs neutral, sondern ein teilnehmender Beobachter, der somit an der Ermöglichung des russischen Imperialismus mitwirke.
Jörn Leonhard, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, und Melanie Arndt, Professorin für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, fragen sich schließlich, inwiefern der russische Angriffskrieg eine Zäsur darstellt oder nicht doch besser in Kontinuitätslinien zu verstehen ist. Arndt verweist in ihrer Intervention auf einen Aspekt des Kriegs, der in der Imperialismusforschung oft unterschlagen wird. Mit Blick auf die Gefährdung von Einrichtungen der zivilen Atomkraftnutzung in der Ukraine warnt sie vor einem „ökologischen Imperialismus“, der bereits während der nuklearen Katastrophe in Tschernobyl 1986 zum Tragen kam.
Leonhard verwirft in seinen abschließenden Worten schließlich einige der Analogien und vermeintlichen Kontinuitäten, die womöglich zu Kriegsbeginn noch sehr naheliegend schienen. So handele es sich beim derzeitigen Krieg nicht um eine Wiederauflage des Kalten Kriegs.
Statt Imperialismus (territorialer und ökonomischer Expansion) und Imperium (tatsächlich etablierter imperialer Herrschaft), resümiert Leonhard die Diskussion, helfe die Kategorie der Imperialität, die Gegenwart zu verstehen. Heute gehe es nicht um die Rückkehr klassischer Imperien. Vielmehr sei die Politik Russlands und anderer ehemaliger Imperien durch imperiale Denkmuster und „historische Präfigurationen“ gekennzeichnet, „die es zu erfüllen“ gelte. Dies führe in der Praxis zu Phantomschmerzen, Abstiegsszenarien, imperialem Kitsch und einem aggressiven Revisionismus.