„Russland hat verloren.“ So formulierte es der französische Präsident Emmanuel Macron auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023. Russland sei in der Ukraine gleich mit vier Niederlagen konfrontiert: Erstens sei der ursprüngliche Invasionsplan auf dem Schlachtfeld gescheitert. Zweitens habe die imperiale Weltsicht Putins eine Niederlage erfahren. Drittens habe Russlands Angriff endgültig die Pläne Kyjiws konsolidiert, ein Teil der europäischen Wertegemeinschaft zu werden. Und viertens habe Russland seinen Status als anerkannte Großmacht verloren.
Macrons Worte unterstreichen, dass es aus der Perspektive westlicher Staaten keine Alternative zu einer Niederlage Russlands geben kann. Denn der offene Bruch des für das Selbstverständnis liberaler Demokratien konstitutiven Völkerrechts in Form eines unilateralen Angriffskriegs dürfe nicht von Erfolg gekrönt sein. Auch in der deutschen Debatte dominiert eine Perspektive, die dem russischen Völkerrechtsbruch großen Raum einräumt. So verständlich und notwendig diese ist, blendet sie jedoch ein kulturhistorisches und soziologisches Problem aus, das für die Zukunft der Ukraine, Russlands und der europäischen Sicherheitsordnung von größter Bedeutung ist.
„Verkannt wird, dass das gegenwärtige Russland auf dem Fundament einer Niederlage errichtet wurde.“
Was in den USA und Westeuropa sowie der liberalen postsowjetischen Intelligenz als selbst erkämpfter Freiheitsgewinn gesehen wird, empfinden nicht wenige Bewohner*innen der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor als Niederlage ihrer Großmacht gegen eine andere. Hierbei mag es sich zunächst mehr um subjektive Wahrnehmung denn objektive Realität handeln – gescheitert waren ja nicht die Menschen, sondern das sowjetische System.
Flankiert von der größten Deindustrialisierung der Menschheitsgeschichte, schrieb sich die empfundene Niederlage aber tief in das kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft ein. Putins viel zitierte Aussage, wonach der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei, entspringt keiner individuellen Pathologie. Sie stößt vielmehr auf breite Resonanz in der russischen Gesellschaft.
Blinder Fleck
Überraschenderweise entgleitet die Dimension der Niederlage den üblicherweise an die russischen 1990er Jahre angelegten Schablonen. So blieb das politikwissenschaftliche Theorem der Demokratisierung – dominierend in den 1990er Jahren, verworfen mit Putins erster Amtszeit – eigenartig indifferent gegenüber dem Umstand, dass sich die Gesellschaft, von der eine Demokratisierung erwartet wurde, ihrerseits selbst als Verlierer im Konflikt mit einem demokratischen Block verstand.
Im Lichte des russischen Angriffs auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wird jedoch immer klarer: Das verdrängte Fundamentale der gegenwärtigen Situation ist der Umstand, dass die Kriegsentscheidung selbst bereits das Ergebnis einer Niederlage ist. Was nun drohen könnte, ist die Niederlage nach der Niederlage.
„Die Kriegsentscheidung selbst ist bereits das Ergebnis einer Niederlage. Was nun drohen könnte, ist die Niederlage nach der Niederlage.“
Wie Wolfgang Schivelbusch in seiner bahnbrechenden Studie zeigt, können Niederlagen je nach historischem, politischem und sozialem Kontext unterschiedliche Formen annehmen.
Zwei Perspektiven
Was also bedeutet es vor dem Hintergrund der postsowjetischen Geschichte, auf Russlands erneute Niederlage hinzuarbeiten? Und welche Konsequenzen hätte diese für eine Nachkriegsordnung?
Interessanterweise ist der umgekehrte Fall, nämlich eine Niederlage der Ukraine, wenn auch nicht wünschenswert, so doch zumindest in klaren inhaltlichen Konturen vorstellbar: Kyjiw wird besetzt, ein moskaufreundliches Regime eingesetzt, politische Opposition verfolgt, die Ukraine in ein zweites Belarus verwandelt. Die Forderung nach einer russischen Niederlage hingegen bleibt derweil zumeist unspezifisch. Anders als einige Beobachter*innen behaupten,
„Die Forderung nach einer russischen Niederlage – jenseits der Einhaltung völkerrechtlicher Normen – bleibt zumeist unspezifisch.“
Sollte es jedoch tatsächlich zu einer russischen Niederlage kommen, wird deren Art und Weise über die zukünftige Entwicklung des Landes und die Stabilität der europäischen Nachkriegsordnung entscheiden. Während im te.ma-Kuratorium Einigkeit über die Ur-Niederlage des Jahres 1991 herrscht, nähern wir uns der Frage, wie realistisch und wünschenswert eine russische Niederlage in der Ukraine ist, aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Sebastian Hoppe: Die russische Staatselite muss die eigene politisch-militärische Niederlage einsehen. Erst dann kann mit Russland konstruktiv über eine Nachkriegsordnung verhandelt werden.
Was sich viele westliche Beobachter*innen von einer russischen Niederlage in der Ukraine implizit erhoffen, ist ein innen- und in der Folge auch außenpolitischer Wandel des Landes. Eine Niederlage würde dann in einen Neuanfang russischer Politik münden, ähnlich wie im Fall des besiegten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Szenario einer progressiven Stunde Null, in der die russische Führung letztendlich ihr Scheitern anerkennt, nimmt einen großen Raum in der Vorstellungswelt vor allem liberaler westlicher Kommentator*innen ein.
„Das Szenario einer progressiven Stunde Null, in der die russische Führung ihr Scheitern anerkennt, nimmt einen großen Raum in der Vorstellungswelt vor allem liberaler westlicher Kommentator*innen ein.“
Es ist jedoch extrem unwahrscheinlich. Denn hinter der Formel, „Russland müsse für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden“, verbergen sich weitreichende Voraussetzungen. So müsste eine neue oder im Denken geläuterte alte Elite einsehen, dass der zuvor eingeschlagene Kriegspfad ein Fehler war – im Idealfall flankiert von einer Anklage der Verantwortlichen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Nicht zuletzt unterstellt diese Perspektive, dass das endgültige Scheitern des russischen Neo-Imperialismus von der neuen Elite als auch von weiten Teilen der Gesellschaft als ein positiver Neuanfang verstanden wird. Das muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Eine russische Niederlage auf dem ukrainischen Schlachtfeld kann auch mit dem Zerfall oder zumindest einer tiefen transformativen Krise des derzeit bestehenden russischen Herrschaftssystems einhergehen. Ob der resultierende Neuanfang dann tatsächlich progressiv oder gar noch regressiver als die Ära Putin wird, ist vollkommen offen.
Hoffnung auf Stunde Null
Eine russische Stunde Null würde einen umfänglichen militärischen Sieg der Ukraine voraussetzen, der nicht nur die Rückeroberung des Donbass, sondern auch der Krim beinhalten müsste. Der Weg dorthin wäre mit weiteren Tausenden Toten und einer nuklearen Eskalationsgefahr gepflastert. Denn die russische Staatselite hat mehrfach mit dem Einsatz von Nuklearraketen gedroht, sollte die als ur-russisch deklarierte und dem Staatsgebiet eigenmächtig zugeschlagene Halbinsel angegriffen werden. Ob es sich um Bluffs handelt, ist dabei zweitrangig, denn russische Nuklearraketen existieren und sind somit eine reale Handlungsoption.
Auch wenn eine progressive Stunde Null wenig realistisch ist, verweist dieses Szenario auf eine wichtige Bedingung einer stabilen Nachkriegsordnung. Die Anfälligkeit Russlands für kriegerische Regressionen kann nur durch internen Wandel überwunden werden. Aufgrund der Atomisierung der russischen Gesellschaft und der Verhärtung des autokratischen Regimes kann ein entsprechender Impuls aber derzeit nur vom ukrainischen Schlachtfeld kommen. Wie er nach innen hin Wirkung entfalten könnte (und ob überhaupt), lässt sich nicht vorhersagen.
„Auch wenn eine progressive Stunde Null wenig realistisch ist: Die Anfälligkeit Russlands für kriegerische Regressionen kann nur durch internen Wandel überwunden werden.“
„Weimarer“ Exklusion
Realistischer als ein Neuanfang ist eine Wiederholung des deutschen Wegs nach dem Ersten Weltkrieg: Russlands Niederlage würde die Form einer militärischen Erschöpfung annehmen, ohne dass seine Elite zum Umdenken gezwungen wäre. Flankiert wäre ein solcher erzwungener Rückzug von einem noch härteren Ausschluss Russlands aus der europäischen Sicherheitsordnung als vor dem Krieg sowie einer tiefen Westintegration der Ukraine.
„Realistischer als ein Neuanfang ist eine Wiederholung des deutschen Wegs nach dem Ersten Weltkrieg.“
In der Folge würde sich eine russische Variante der deutschen
„Weil die Niederlage in Elite und Gesellschaft als ungerechtfertigt und unnötig wahrgenommen würde, hat sich in Russland bisher keine ‚Partei des Friedens‘ herausgebildet.“
Die Melange aus erneuter Niederlage, einer revanchistischen Aufladung des russischen Imperialismus und dem bewussten Ausschluss aus der europäischen Sicherheitsordnung würde den nächsten von Russland ausgehenden Krieg wohl bereits vorprogrammieren. Dieselben Prozesse, die den Nährboden für den Angriffskrieg des Jahres 2022 bildeten, würden auch diesmal greifen.
Wandel durch Niederlage
Will man den Konflikt langfristig befrieden, muss man die Lehren aus den deutschen Niederlagen der Jahre 1918 und 1945 zusammendenken. Zwei Prozesse sind hierfür zentral. Zum einen muss die politische und militärische Niederlage Russlands in die Einsicht der Staatselite münden, dass man gescheitert ist. Wie hoch die russischen Verluste an Mensch und Material sowie annektiertem Territorium sein müssen, damit die Niederlage auch als solche im Kreml realisiert wird, gehört zu den großen Unbekannten des Krieges. Zum anderen sollte ein in der Ukraine gescheitertes Russland nicht das „Weimarer“ Schicksal der Ächtung auf internationalem Parkett teilen.
Zwar ist der Jahrestag eines unilateralen Angriffskriegs mit täglich Hunderten Toten auf beiden Seiten und Tausenden dokumentierten Kriegsverbrechen nicht die Stunde, um Nachsicht mit dem Aggressorstaat anzumahnen. Es sei jedoch an die Worte von John Maynard Keynes nach dem Ersten Weltkrieg erinnert: In seiner fundamentalen Kritik der Versailler Vertragswerke von 1919 ging es ihm nicht um Mitleid oder Nachsichtigkeit gegenüber dem besiegten Deutschen Reich – ein politischer Akteur, dessen Wesen und Taten Keynes zutiefst verachtete.
„Ohne Verknüpfung einer militärischen Niederlage Russlands mit dem innenpolitischen Eingeständnis des eigenen Scheiterns führen umfangreiche sofortige Friedensverhandlungen ins Leere.“
Die Forderung nach Inklusion kann allerdings nur unter einer Bedingung gestellt werden: Der Eintritt Russlands in eine Nachkriegsordnung darf nicht auf denselben innenpolitischen Koordinaten fußen, die bereits in den Krieg geführt haben. Ohne die Verknüpfung einer militärischen Niederlage Russlands in der Ukraine mit dem innenpolitischen Eingeständnis des eigenen Scheiterns führen umfangreiche Friedensverhandlungen, wie sie von Vertreter*innen einer sofortigen Verhandlungslösung gefordert werden, ins Leere. Eine kluge politische Strategie, die ihre Lektionen aus der Geschichte ernst nimmt, muss folglich die Quadratur des Kreises schaffen: Zum einen muss sie die Ukraine befähigen, Russland eine politisch-militärische Niederlage zuzufügen, die auch das tief im russischen Herrschaftssystem verankerte „imperiale Syndrom“ destabilisiert. Andererseits sollte parallel eine Ordnung vorgedacht und vorbereitet werden, welche den erneuten Rückfall in einen kriegerischen Imperialismus eines Nachkriegsrusslands verhindern kann.
Alexandra Sitenko: Politisch und moralisch hat Russland den Krieg bereits verloren. Im Fall einer militärischen Niederlage Russlands überwiegen die nuklearen Risiken. Letztlich gibt es keine Alternative zu einer diplomatischen Beendigung des Krieges.
In der Diskussion über den gewünschten Ausgang des Krieges in der Ukraine werden auf der einen Seite Argumente ins Feld geführt, die die Notwendigkeit einer Niederlage Russlands und eines Sieges der Ukraine betonen, während die andere Seite dafür plädiert, möglichst schnell einen Waffenstillstand zu erreichen und den Konflikt einzufrieren, um weitere Opfer und eine weitere Eskalation zu vermeiden.
Was ist eine Niederlage?
Die Verfechter*innen einer russischen Niederlage auf dem Schlachtfeld begründen ihre Position u.a. damit, dass Aggressionen erfahrungsgemäß nur mit Gewalt gestoppt werden könnten. Außerdem stehe in der Ukraine die europäische Sicherheitsarchitektur mit ihren Grundprinzipien der territorialen Integrität, der Souveränität und des Verbots der Gewaltanwendung auf dem Spiel. Schließlich würde nur eine Niederlage Russland dazu bringen, seine revisionistischen Ziele aufzugeben und somit eine erneute Aggression zukünftig deutlich erschweren.
Auf dem Weltwirtschaftsforum 2023 in Davos machte auch Bundeskanzler Olaf Scholz klar, dass Russland scheitern müsse, damit der Krieg ende. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass Russland „mit seinen imperialistischen Zielen jetzt schon vollkommen gescheitert ist“, womit er einen wichtigen Punkt und wohl die größte Schwachstelle der Niederlage-Debatte anspricht: Wer auch immer von der Notwendigkeit einer russischen Niederlage redet, entzieht sich der Anforderung, ihre genauen Kriterien zu definieren.
Wenn Russland, wie das obige Statement behauptet, mit seinen Zielen bereits gescheitert ist, so insinuiert das, dass es eine Niederlage bereits erlitten hat. Warum geht der Krieg trotzdem weiter? Etwa weil Russland in diesem Fall die Definitionshoheit besitzt und eine andere Vorstellung von einer Niederlage hat oder weil wir zwischen verschiedenen Arten von Niederlagen unterscheiden müssen?
„Es ist keineswegs so, dass von einem russischen Siegeszug auszugehen ist.“
Betrachtet man als ein Kriegsziel Russlands vor der Invasion, das Nato-Bündnis von der russischen Grenze fernzuhalten, kann man den Beginn des angekündigten Beitrittsprozesses Schwedens und Finnlands als ein politisches Scheitern Russlands werten. Die sogenannte „Denazifizierung“, welche als politische Unterwerfung der Ukraine zu verstehen ist, ist Russland ebenfalls nicht gelungen. Die mehrheitliche Verurteilung der russischen Aggression in den UNO-Abstimmungen im März und Oktober 2022 und auf dem letzten G20-Gipfel auf Bali kann bereits als eine moralische Niederlage aufgefasst werden, wenngleich sich ein Großteil der Staaten im Globalen Süden den westlichen Sanktionen bis heute nicht angeschlossen hat. Der anhaltende, unerwartet starke Widerstand der ukrainischen Armee und die Entzauberung der kolportierten militärischen Schlagkraft der russischen Armee nach fast einem Jahr Krieg können ebenso als ein moralisches Fiasko interpretiert werden. Es ist also keineswegs so, dass von einem russischen Siegeszug auszugehen ist.
Dauerkonflikt und nukleare Risiken
Was könnte passieren, wenn Russland neben der politischen und moralischen auch eine militärische Niederlage drohen würde? „Atommächte haben noch nie große Konflikte verloren, von denen ihr Schicksal abhängt“, verlautbarte der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew. Der ehemalige Brigadegeneral der US-Armee Kevin Ryan äußerte kürzlich ebenfalls die Vermutung, dass Russland eher eine Atomwaffe einsetzen würde, als zuzulassen, dass sein Militär im Feld besiegt werde. Die von Wladimir Putin am 21. Februar 2023 verkündete Entscheidung, Russlands Teilnahme am Atomwaffen-Kontrollabkommen New Start auszusetzen und die Bereitschaft, russische Atomwaffen zu testen, falls die USA dies zuerst tun sollten, deuten auf eine weitere Eskalationsstufe und einen graduellen Abbau von Barrieren für einen Atomwaffeneinsatz hin.
Sowohl der Vorsitzende des US-Generalstabs Mark Milley als auch US-Sicherheitsexpert*innen der RAND Corporation warnen darüber hinaus, dass eine russische Niederlage auf dem Schlachtfeld, wenn überhaupt, dann nur über einen langen und blutigen Krieg mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten zu erreichen wäre. Das hätte gravierende Auswirkungen nicht nur für Russland, sondern vor allem für die Ukraine, aber auch für Europa, die USA und die Welt.
Wer eine totale russische Niederlage zum ultimativen militärischen Ziel erklärt, sollte schließlich daran denken, dass diese unter Umständen den Boden für zukünftige neue militärische Auseinandersetzungen zwischen einstigen Kriegsgegnern bereiten könnte, statt den Konflikt nachhaltig zu lösen. Welche Umstände und psychologischen Mechanismen eine erneute Aggression nach einer militärischen Niederlage bedingen können, ist Gegenstand einer Analyse der Politik- und Neurowissenschaftlerin Joslyn Barnhart.
„Wer eine russische Niederlage zum Ziel erklärt, sollte daran denken, dass diese den Boden für neue militärische Auseinandersetzungen bereiten könnte, statt den Konflikt nachhaltig zu lösen.“
Die Neigung zu nachfolgender Aggression wird größer, je negativer die kollektiven Emotionen, wie Demütigung, Ressentiment und Hass sind. Aggression ist generell eher ein Zeichen der Schwäche und mangelnder Souveränität als von Stärke, so auch im Falle der russischen Invasion in der Ukraine.
Eine Niederlage ist keine Lösung
Russland sah sich bereits vor der Invasion auf der Verliererseite, sein Handeln war von Ressentiments und dem subjektiv empfundenen Gefühl der Demütigung aus der Ur-Niederlage von 1991 getrieben. Daraus ergibt sich im Falle einer weiteren Niederlage eine signifikante Potenzierung der Wahrscheinlichkeit einer nachfolgenden Konfliktivität und Aggressivität, wenn auch nicht sofort, sondern erst nach einigen Jahren. Die historischen Konflikterfahrungen haben Russland außerdem gelehrt, dass es im Falle eines militärischen Scheiterns Gefahr läuft, seine eigene territoriale Integrität zu verlieren.
„Man sollte verstärkt zu diplomatischen Mitteln greifen und Staaten des Globalen Südens einbeziehen.“
Somit ist eine Niederlage, die für Russland entweder eine weitere internationale Demütigung oder ein Risiko für den Fortbestand seines Staates und des herrschenden politischen Modells bedeuten würde, höchstwahrscheinlich mit schweren und kaum kontrollierbaren Folgen verbunden. Um diese zu vermeiden, sollte man verstärkt zu diplomatischen Mitteln greifen und Staaten des Globalen Südens einbeziehen, um die Kriegshandlungen zu beenden und damit Risiken und Folgen des Krieges zu minimieren.
Es sind aktuell seine verbliebenen globalen Partner in Afrika, Asien und Lateinamerika, die Russland ggf. in einem multilateralen Rahmen aufzeigen könnten, dass sich ein militärischer Rückzug positiv auf Status und Ansehen des Landes auswirken würde. Auf längere Sicht könnte sich dies auch mit Blick auf Russlands künftigen Platz in der globalen Friedens- und Sicherheitsordnung sowie in der Weltwirtschafts- und Handelspolitik auszahlen.
Sebastian Hoppe und Alexandra Sitenko:
Jede Strategie für den zukünftigen Umgang mit Russland hängt von den Konturen des erwünschten Ergebnisses ab. Vier Punkte stoßen wahrscheinlich auf breiten Konsens: Erstens geht es darum, das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden und Menschenleben zu schützen – bei gleichzeitiger Wahrung der politischen Souveränität und möglichst großer territorialer Integrität der Ukraine. Zweitens gilt es, eine Ausweitung des Kriegsgeschehens auf andere Länder und eine direkte militärische Beteiligung von Nato-Staaten zu verhindern. Drittens darf es nicht zum Einsatz von Atomwaffen kommen. Und viertens muss Russland seinen Fehler realisieren, einen unilateralen Angriffskrieg begonnen zu haben. Hierzu gehören insbesondere die Anerkennung der verursachten Schäden in der Ukraine und eine entsprechende Entschädigung.
Bei all dem sollte gleichwohl vermieden werden, dass Russland in eine europäische Nachkriegsordnung eintritt, in der es institutionell-diplomatisch und wirtschaftlich isoliert ist. Denn ausgehend von der Konstellation der historischen Ur-Niederlage von 1991, von der Russlands Weg in den Krieg seinen Ursprung nahm, erscheint es kontraproduktiv, das Land zu einem
Internationales Settlement und interner Wandel
Die vier benannten Ziele verlangen nach einer klugen Strategie, möglicherweise in einer internationalen Koalition unter Beteiligung der UN und der Brics-Staaten, die den Aggressor seinen fatalen Fehler erkennen und die Notwendigkeit von Verhandlungen akzeptieren lässt. Westliche Politiker*innen und Öffentlichkeiten sollten anerkennen, dass die breite internationale Einbettung eines ukrainisch-russischen Settlements über den europäischen Kontext hinaus kein Entgegenkommen gegenüber Russland ist. Sie erfüllt vielmehr den doppelten Zweck, einerseits international Druck auf den Kreml auszuüben, der sich bisher weigert, die auch global destabilisierenden Konsequenzen seines Angriffs anzuerkennen, und andererseits das in den Augen Moskaus Existenzielle der Niederlage abzuschwächen.
„Es bedarf einer klugen internationalen Strategie, die den Aggressor seinen fatalen Fehler erkennen und die Notwendigkeit von Verhandlungen akzeptieren lässt.“
Um sich an eine Nachkriegsordnung heranzuwagen, schlägt etwa der Historiker Vladislav Zubok eine Regelung vor, derzufolge westliche Regierungen Russlands amtierende Führung als legitimen Gesprächspartner anerkennen, sobald Moskau die UN-Charta und das Völkerrecht sowie seine internationalen Verträge, Abkommen und Verpflichtungen einhält. Das Streben der russischen Staatselite nach internationaler Anerkennung könnte hierbei durchaus als diplomatischer Hebel genutzt werden.
Paradoxerweise ist der Weg zu derlei internationalen Konfliktbeilegungsmechanismen leichter vorstellbar als der zur zweiten notwendigen Voraussetzung eines Friedens, der seinem Namen auch gerecht wird. Russland, dessen Elite derzeit einen entfesselten Militarismus nach innen und außen als maßgebliches Mittel der Herrschaftssicherung gewählt hat, müsste sich intern soweit wandeln, dass die eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht durch zukünftige Regressionen seiner Politik infrage gestellt werden.
Um auf den militärischen Sieg der Ukraine hinzuarbeiten und dennoch gleichzeitig keine erneute und noch revisionistischere Kultur der Niederlage in Russland zu schaffen, bedarf es daher aller vorhandenen politischen, diplomatischen und denkerischen Kreativität. Emmanuel Macrons Worte auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2023 sollten Warnung und Ansporn zugleich sein: „Es wird keinen dauerhaften und vollständigen Frieden auf unserem Kontinent geben, wenn es uns nicht gelingt, uns der Frage Russlands zu stellen, mit klarem Verstand und ohne jede Selbstgefälligkeit.“
Sebastian Hoppe ist Politikwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Sein Schwerpunkt liegt in der Politischen Ökonomie, Historischen Soziologie und den Internationalen Beziehungen. Alexandra Sitenko hat in Global Studies an der Universität Leipzig promoviert mit einer Arbeit über die Entstehung der russisch-lateinamerikanischen strategischen Partnerschaften zwischen 1992 und 2017 und ist freiberufliche politische Analystin. Gemeinsam mit Hera Shokohi bilden sie die Kuration dieses Kanals.