Curator's Cut, 22 Feb 2023

Zur Wünschbarkeit der Niederlage

Die Perspektive einer russischen Niederlage ist in der Diskussion um den Krieg zwischen Russland und der Ukraine allgegenwärtig. Aber was wären ihre Konsequenzen? Und wie stabil kann eine Nachkriegsordnung sein, in die Russland als Verlierer eintritt? Die te.ma-Kurator*innen Sebastian Hoppe und Alexandra Sitenko sind sich einig, dass Russlands Angriffskrieg bereits das Ergebnis einer nie verarbeiteten Ur-Niederlage ist. Allerdings entzweit sie die Frage, welcher Ausweg aus der gegenwärtigen Aggression tatsächlich realistisch und wünschenswert ist.

Ukraine: Krieg

„Russland hat verloren.“ So formulierte es der französische Präsident Emmanuel Macron auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023. Russland sei in der Ukraine gleich mit vier Niederlagen konfrontiert: Erstens sei der ursprüngliche Invasionsplan auf dem Schlachtfeld gescheitert. Zweitens habe die imperiale Weltsicht Putins eine Niederlage erfahren. Drittens habe Russlands Angriff endgültig die Pläne Kyjiws konsolidiert, ein Teil der europäischen Wertegemeinschaft zu werden. Und viertens habe Russland seinen Status als anerkannte Großmacht verloren.

Macrons Worte unterstreichen, dass es aus der Perspektive westlicher Staaten keine Alternative zu einer Niederlage Russlands geben kann. Denn der offene Bruch des für das Selbstverständnis liberaler Demokratien konstitutiven Völkerrechts in Form eines unilateralen Angriffskriegs dürfe nicht von Erfolg gekrönt sein. Auch in der deutschen Debatte dominiert eine Perspektive, die dem russischen Völkerrechtsbruch großen Raum einräumt. So verständlich und notwendig diese ist, blendet sie jedoch ein kulturhistorisches und soziologisches Problem aus, das für die Zukunft der Ukraine, Russlands und der europäischen Sicherheitsordnung von größter Bedeutung ist.1 Verkannt wird, dass das gegenwärtige Russland bereits auf dem Fundament einer Niederlage errichtet wurde. 

„Verkannt wird, dass das gegenwärtige Russland auf dem Fundament einer Niederlage errichtet wurde.“

Was in den USA und Westeuropa sowie der liberalen postsowjetischen Intelligenz als selbst erkämpfter Freiheitsgewinn gesehen wird, empfinden nicht wenige Bewohner*innen der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor als Niederlage ihrer Großmacht gegen eine andere. Hierbei mag es sich zunächst mehr um subjektive Wahrnehmung denn objektive Realität handeln – gescheitert waren ja nicht die Menschen, sondern das sowjetische System.2 

Flankiert von der größten Deindustrialisierung der Menschheitsgeschichte, schrieb sich die empfundene Niederlage aber tief in das kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft ein. Putins viel zitierte Aussage, wonach der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei, entspringt keiner individuellen Pathologie. Sie stößt vielmehr auf breite Resonanz in der russischen Gesellschaft.3 Wie Gulnaz Sharafutdinova in ihrer sozialpsychologischen Studie der russischen Gesellschaft unter Putin herausstreicht, war „die kollektive sowjetische Identität, die nach dem Zweiten Weltkrieg herangereift war, keine bloße Hülle. Sie vermittelte ein ausgeprägtes Gefühl der Zugehörigkeit.“4 

Blinder Fleck

Überraschenderweise entgleitet die Dimension der Niederlage den üblicherweise an die russischen 1990er Jahre angelegten Schablonen. So blieb das politikwissenschaftliche Theorem der Demokratisierung – dominierend in den 1990er Jahren, verworfen mit Putins erster Amtszeit – eigenartig indifferent gegenüber dem Umstand, dass sich die Gesellschaft, von der eine Demokratisierung erwartet wurde, ihrerseits selbst als Verlierer im Konflikt mit einem demokratischen Block verstand.5 Auch die Vertreter*innen der Politischen Ökonomie waren lediglich in der Lage, das Ausmaß der sozioökonomischen Krise zu vermessen, die die Welle des neoliberalen Kapitalismus nach Russland gebracht hatte, ohne sie in den kulturellen Registern der Niederlage denken zu können.6 Selbst die mit Krieg und Frieden besser vertraute Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) hat die Kategorie der Niederlage in ihrer Rückwirkung auf die russische Gesellschaft nie systematisch in den Blick genommen.7

Im Lichte des russischen Angriffs auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wird jedoch immer klarer: Das verdrängte Fundamentale der gegenwärtigen Situation ist der Umstand, dass die Kriegsentscheidung selbst bereits das Ergebnis einer Niederlage ist. Was nun drohen könnte, ist die Niederlage nach der Niederlage.

„Die Kriegsentscheidung selbst ist bereits das Ergebnis einer Niederlage. Was nun drohen könnte, ist die Niederlage nach der Niederlage.“

Wie Wolfgang Schivelbusch in seiner bahnbrechenden Studie zeigt, können Niederlagen je nach historischem, politischem und sozialem Kontext unterschiedliche Formen annehmen.8 Das kollektive gesellschaftliche Trauma der meist als ungerechtfertigt empfundenen Niederlage bildet aber regelmäßig einen dankbaren Boden für Hass auf den ehemaligen Gegner und für revanchistische Gelüste, die Größe von einst zu restaurieren. Gleichzeitig, so Schivelbusch, müssen aus Kulturen der Niederlage nicht zwangsläufig erneute Kriege erwachsen. 

Zwei Perspektiven 

Was also bedeutet es vor dem Hintergrund der postsowjetischen Geschichte, auf Russlands erneute Niederlage hinzuarbeiten? Und welche Konsequenzen hätte diese für eine Nachkriegsordnung?

Interessanterweise ist der umgekehrte Fall, nämlich eine Niederlage der Ukraine, wenn auch nicht wünschenswert, so doch zumindest in klaren inhaltlichen Konturen vorstellbar: Kyjiw wird besetzt, ein moskaufreundliches Regime eingesetzt, politische Opposition verfolgt, die Ukraine in ein zweites Belarus verwandelt. Die Forderung nach einer russischen Niederlage hingegen bleibt derweil zumeist unspezifisch. Anders als einige Beobachter*innen behaupten,9 ist die Niederlage Russlands zudem keineswegs zwangsläufig. Zu dicht ist der Nebel des Krieges und zu groß das Unwissen über Verluste, Kampfmoral und die interne Politik der Kriegsführung auf beiden Seiten. Denkbar ist zudem, dass sich der Krieg über Jahre verstetigt, mit einem ständigen Wechsel abflauender und aufwallender Phasen, ohne dass von einer Niederlage oder einem Sieg für eine der beiden Kriegsparteien gesprochen werden kann.

„Die Forderung nach einer russischen Niederlage – jenseits der Einhaltung völkerrechtlicher Normen – bleibt zumeist unspezifisch.“

Sollte es jedoch tatsächlich zu einer russischen Niederlage kommen, wird deren Art und Weise über die zukünftige Entwicklung des Landes und die Stabilität der europäischen Nachkriegsordnung entscheiden. Während im te.ma-Kuratorium Einigkeit über die Ur-Niederlage des Jahres 1991 herrscht, nähern wir uns der Frage, wie realistisch und wünschenswert eine russische Niederlage in der Ukraine ist, aus unterschiedlichen Blickwinkeln. 


Sebastian Hoppe: Die russische Staatselite muss die eigene politisch-militärische Niederlage einsehen. Erst dann kann mit Russland konstruktiv über eine Nachkriegsordnung verhandelt werden.

Was sich viele westliche Beobachter*innen von einer russischen Niederlage in der Ukraine implizit erhoffen, ist ein innen- und in der Folge auch außenpolitischer Wandel des Landes. Eine Niederlage würde dann in einen Neuanfang russischer Politik münden, ähnlich wie im Fall des besiegten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Szenario einer progressiven Stunde Null, in der die russische Führung letztendlich ihr Scheitern anerkennt, nimmt einen großen Raum in der Vorstellungswelt vor allem liberaler westlicher Kommentator*innen ein. 

„Das Szenario einer progressiven Stunde Null, in der die russische Führung ihr Scheitern anerkennt, nimmt einen großen Raum in der Vorstellungswelt vor allem liberaler westlicher Kommentator*innen ein.“

Es ist jedoch extrem unwahrscheinlich. Denn hinter der Formel, „Russland müsse für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden“, verbergen sich weitreichende Voraussetzungen. So müsste eine neue oder im Denken geläuterte alte Elite einsehen, dass der zuvor eingeschlagene Kriegspfad ein Fehler war – im Idealfall flankiert von einer Anklage der Verantwortlichen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Nicht zuletzt unterstellt diese Perspektive, dass das endgültige Scheitern des russischen Neo-Imperialismus von der neuen Elite als auch von weiten Teilen der Gesellschaft als ein positiver Neuanfang verstanden wird. Das muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Eine russische Niederlage auf dem ukrainischen Schlachtfeld kann auch mit dem Zerfall oder zumindest einer tiefen transformativen Krise des derzeit bestehenden russischen Herrschaftssystems einhergehen. Ob der resultierende Neuanfang dann tatsächlich progressiv oder gar noch regressiver als die Ära Putin wird, ist vollkommen offen.

Hoffnung auf Stunde Null

Eine russische Stunde Null würde einen umfänglichen militärischen Sieg der Ukraine voraussetzen, der nicht nur die Rückeroberung des Donbass, sondern auch der Krim beinhalten müsste. Der Weg dorthin wäre mit weiteren Tausenden Toten und einer nuklearen Eskalationsgefahr gepflastert. Denn die russische Staatselite hat mehrfach mit dem Einsatz von Nuklearraketen gedroht, sollte die als ur-russisch deklarierte und dem Staatsgebiet eigenmächtig zugeschlagene Halbinsel angegriffen werden. Ob es sich um Bluffs handelt, ist dabei zweitrangig, denn russische Nuklearraketen existieren und sind somit eine reale Handlungsoption.

Auch wenn eine progressive Stunde Null wenig realistisch ist, verweist dieses Szenario auf eine wichtige Bedingung einer stabilen Nachkriegsordnung. Die Anfälligkeit Russlands für kriegerische Regressionen kann nur durch internen Wandel überwunden werden. Aufgrund der Atomisierung der russischen Gesellschaft und der Verhärtung des autokratischen Regimes kann ein entsprechender Impuls aber derzeit nur vom ukrainischen Schlachtfeld kommen. Wie er nach innen hin Wirkung entfalten könnte (und ob überhaupt), lässt sich nicht vorhersagen. 

„Auch wenn eine progressive Stunde Null wenig realistisch ist: Die Anfälligkeit Russlands für kriegerische Regressionen kann nur durch internen Wandel überwunden werden.“ 

„Weimarer“ Exklusion

Realistischer als ein Neuanfang ist eine Wiederholung des deutschen Wegs nach dem Ersten Weltkrieg: Russlands Niederlage würde die Form einer militärischen Erschöpfung annehmen, ohne dass seine Elite zum Umdenken gezwungen wäre. Flankiert wäre ein solcher erzwungener Rückzug von einem noch härteren Ausschluss Russlands aus der europäischen Sicherheitsordnung als vor dem Krieg sowie einer tiefen Westintegration der Ukraine.10 Russland müsste sich als Konsequenz einer Nachkriegsordnung fügen, die es erneut als Marginalisierung und Verdrängung aus dem Kreis der Großmächte empfinden würde. Ein solches „Weimarer“ Russland unter internationaler Ächtung hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit einen noch größeren Revanchismus als jenen nach der Ur-Niederlage des sowjetischen Untergangs zur Folge. Russland hätte seine politisch-militärischen Ziele in der Ukraine zwar verfehlt, würde seine neo-imperialen politischen Koordinaten allerdings beibehalten.

„Realistischer als ein Neuanfang ist eine Wiederholung des deutschen Wegs nach dem Ersten Weltkrieg.“

In der Folge würde sich eine russische Variante der deutschen Dolchstoßlegende nach dem Ersten Weltkrieg herausbilden. Ihr Kern wäre, dass die „im Felde unbesiegte“ russische Armee lediglich deshalb gescheitert sei, weil ihr die politische Rückendeckung aus Moskau gefehlt habe. Mit einer entschiedeneren Umstellung auf eine Kriegswirtschaft und einer frühzeitigen Generalmobilmachung, möglicherweise auch durch den Einsatz taktischer Nuklearraketen, so die wahrscheinliche Argumentation russischer Kriegsbefürworter*innen, hätte man die „ukrainischen Faschisten“ und den „kollektiven Westen“ niederringen können. Aus diesem Grund – der Vorahnung, dass die Niederlage von mächtigen politischen Kräften in Elite und Gesellschaft als ungerechtfertigt und unnötig wahrgenommen würde – hat sich in Russland bisher keine „Partei des Friedens“ herausgebildet. Wie die russische Politologin Tatiana Stanovaya erkannt hat, würde sie sofort zur Partei der Niederlage deklariert werden.

„Weil die Niederlage in Elite und Gesellschaft als ungerechtfertigt und unnötig wahrgenommen würde, hat sich in Russland bisher keine ‚Partei des Friedens‘ herausgebildet.“

Die Melange aus erneuter Niederlage, einer revanchistischen Aufladung des russischen Imperialismus und dem bewussten Ausschluss aus der europäischen Sicherheitsordnung würde den nächsten von Russland ausgehenden Krieg wohl bereits vorprogrammieren. Dieselben Prozesse, die den Nährboden für den Angriffskrieg des Jahres 2022 bildeten, würden auch diesmal greifen.11

Wandel durch Niederlage

Will man den Konflikt langfristig befrieden, muss man die Lehren aus den deutschen Niederlagen der Jahre 1918 und 1945 zusammendenken. Zwei Prozesse sind hierfür zentral. Zum einen muss die politische und militärische Niederlage Russlands in die Einsicht der Staatselite münden, dass man gescheitert ist. Wie hoch die russischen Verluste an Mensch und Material sowie annektiertem Territorium sein müssen, damit die Niederlage auch als solche im Kreml realisiert wird, gehört zu den großen Unbekannten des Krieges. Zum anderen sollte ein in der Ukraine gescheitertes Russland nicht das „Weimarer“ Schicksal der Ächtung auf internationalem Parkett teilen. 

Zwar ist der Jahrestag eines unilateralen Angriffskriegs mit täglich Hunderten Toten auf beiden Seiten und Tausenden dokumentierten Kriegsverbrechen nicht die Stunde, um Nachsicht mit dem Aggressorstaat anzumahnen. Es sei jedoch an die Worte von John Maynard Keynes nach dem Ersten Weltkrieg erinnert: In seiner fundamentalen Kritik der Versailler Vertragswerke von 1919 ging es ihm nicht um Mitleid oder Nachsichtigkeit gegenüber dem besiegten Deutschen Reich – ein politischer Akteur, dessen Wesen und Taten Keynes zutiefst verachtete.12 Sein Denken drehte sich vielmehr um das Karthagische des vermeintlichen, von den Siegermächten geschaffenen Friedens. Versailles schuf eine Ordnung, die den Siegern gerecht erschien, jedoch durch den damals vor allem ökonomischen Ausschluss der Besiegten den Keim des nächsten Kriegs bereits in sich trug. 

„Ohne Verknüpfung einer militärischen Niederlage Russlands mit dem innenpolitischen Eingeständnis des eigenen Scheiterns führen umfangreiche sofortige Friedensverhandlungen ins Leere.“ 

Die Forderung nach Inklusion kann allerdings nur unter einer Bedingung gestellt werden: Der Eintritt Russlands in eine Nachkriegsordnung darf nicht auf denselben innenpolitischen Koordinaten fußen, die bereits in den Krieg geführt haben. Ohne die Verknüpfung einer militärischen Niederlage Russlands in der Ukraine mit dem innenpolitischen Eingeständnis des eigenen Scheiterns führen umfangreiche Friedensverhandlungen, wie sie von Vertreter*innen einer sofortigen Verhandlungslösung gefordert werden, ins Leere. Eine kluge politische Strategie, die ihre Lektionen aus der Geschichte ernst nimmt, muss folglich die Quadratur des Kreises schaffen: Zum einen muss sie die Ukraine befähigen, Russland eine politisch-militärische Niederlage zuzufügen, die auch das tief im russischen Herrschaftssystem verankerte „imperiale Syndrom“ destabilisiert. Andererseits sollte parallel eine Ordnung vorgedacht und vorbereitet werden, welche den erneuten Rückfall in einen kriegerischen Imperialismus eines Nachkriegsrusslands verhindern kann. 


Alexandra Sitenko: Politisch und moralisch hat Russland den Krieg bereits verloren. Im Fall einer militärischen Niederlage Russlands überwiegen die nuklearen Risiken. Letztlich gibt es keine Alternative zu einer diplomatischen Beendigung des Krieges.

In der Diskussion über den gewünschten Ausgang des Krieges in der Ukraine werden auf der einen Seite Argumente ins Feld geführt, die die Notwendigkeit einer Niederlage Russlands und eines Sieges der Ukraine betonen, während die andere Seite dafür plädiert, möglichst schnell einen Waffenstillstand zu erreichen und den Konflikt einzufrieren, um weitere Opfer und eine weitere Eskalation zu vermeiden. 

Was ist eine Niederlage? 

Die Verfechter*innen einer russischen Niederlage auf dem Schlachtfeld begründen ihre Position u.a. damit, dass Aggressionen erfahrungsgemäß nur mit Gewalt gestoppt werden könnten. Außerdem stehe in der Ukraine die europäische Sicherheitsarchitektur mit ihren Grundprinzipien der territorialen Integrität, der Souveränität und des Verbots der Gewaltanwendung auf dem Spiel. Schließlich würde nur eine Niederlage Russland dazu bringen, seine revisionistischen Ziele aufzugeben und somit eine erneute Aggression zukünftig deutlich erschweren.13 

Auf dem Weltwirtschaftsforum 2023 in Davos machte auch Bundeskanzler Olaf Scholz klar, dass Russland scheitern müsse, damit der Krieg ende. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass Russland „mit seinen imperialistischen Zielen jetzt schon vollkommen gescheitert ist“, womit er einen wichtigen Punkt und wohl die größte Schwachstelle der Niederlage-Debatte anspricht: Wer auch immer von der Notwendigkeit einer russischen Niederlage redet, entzieht sich der Anforderung, ihre genauen Kriterien zu definieren. 

Wenn Russland, wie das obige Statement behauptet, mit seinen Zielen bereits gescheitert ist, so insinuiert das, dass es eine Niederlage bereits erlitten hat. Warum geht der Krieg trotzdem weiter? Etwa weil Russland in diesem Fall die Definitionshoheit besitzt und eine andere Vorstellung von einer Niederlage hat oder weil wir zwischen verschiedenen Arten von Niederlagen unterscheiden müssen? 

„Es ist keineswegs so, dass von einem russischen Siegeszug auszugehen ist.“

Betrachtet man als ein Kriegsziel Russlands vor der Invasion, das Nato-Bündnis von der russischen Grenze fernzuhalten, kann man den Beginn des angekündigten Beitrittsprozesses Schwedens und Finnlands als ein politisches Scheitern Russlands werten. Die sogenannte „Denazifizierung“, welche als politische Unterwerfung der Ukraine zu verstehen ist, ist Russland ebenfalls nicht gelungen. Die mehrheitliche Verurteilung der russischen Aggression in den UNO-Abstimmungen im März und Oktober 2022 und auf dem letzten G20-Gipfel auf Bali kann bereits als eine moralische Niederlage aufgefasst werden, wenngleich sich ein Großteil der Staaten im Globalen Süden den westlichen Sanktionen bis heute nicht angeschlossen hat. Der anhaltende, unerwartet starke Widerstand der ukrainischen Armee und die Entzauberung der kolportierten militärischen Schlagkraft der russischen Armee nach fast einem Jahr Krieg können ebenso als ein moralisches Fiasko interpretiert werden. Es ist also keineswegs so, dass von einem russischen Siegeszug auszugehen ist.  

Dauerkonflikt und nukleare Risiken

Was könnte passieren, wenn Russland neben der politischen und moralischen auch eine militärische Niederlage drohen würde? „Atommächte haben noch nie große Konflikte verloren, von denen ihr Schicksal abhängt“, verlautbarte der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew. Der ehemalige Brigadegeneral der US-Armee Kevin Ryan äußerte kürzlich ebenfalls die Vermutung, dass Russland eher eine Atomwaffe einsetzen würde, als zuzulassen, dass sein Militär im Feld besiegt werde. Die von Wladimir Putin am 21. Februar 2023 verkündete Entscheidung, Russlands Teilnahme am Atomwaffen-Kontrollabkommen New Start auszusetzen und die Bereitschaft, russische Atomwaffen zu testen, falls die USA dies zuerst tun sollten, deuten auf eine weitere Eskalationsstufe und einen graduellen Abbau von Barrieren für einen Atomwaffeneinsatz hin. 

Sowohl der Vorsitzende des US-Generalstabs Mark Milley als auch US-Sicherheitsexpert*innen der RAND Corporation warnen darüber hinaus, dass eine russische Niederlage auf dem Schlachtfeld, wenn überhaupt, dann nur über einen langen und blutigen Krieg mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten zu erreichen wäre. Das hätte gravierende Auswirkungen nicht nur für Russland, sondern vor allem für die Ukraine, aber auch für Europa, die USA und die Welt.14 

Wer eine totale russische Niederlage zum ultimativen militärischen Ziel erklärt, sollte schließlich daran denken, dass diese unter Umständen den Boden für zukünftige neue militärische Auseinandersetzungen zwischen einstigen Kriegsgegnern bereiten könnte, statt den Konflikt nachhaltig zu lösen. Welche Umstände und psychologischen Mechanismen eine erneute Aggression nach einer militärischen Niederlage bedingen können, ist Gegenstand einer Analyse der Politik- und Neurowissenschaftlerin Joslyn Barnhart.15 Nach einer Untersuchung der Auswirkungen der jüngsten Kriegsereignisse auf die Aggressionsneigung eines Staates kommt sie zum Schluss, dass Staaten, die kürzlich besiegt wurden, im Durchschnitt eher dazu neigen, nachfolgende Streitigkeiten auszulösen, und ein höheres Maß an Aggression an den Tag legen. Solche neuen Aggressionen können sich sowohl gegen den Gewinner der letzten Auseinandersetzung richten, als auch gegen Drittstaaten.16  

„Wer eine russische Niederlage zum Ziel erklärt, sollte daran denken, dass diese den Boden für neue militärische Auseinandersetzungen bereiten könnte, statt den Konflikt nachhaltig zu lösen.“

Die Neigung zu nachfolgender Aggression wird größer, je negativer die kollektiven Emotionen, wie Demütigung, Ressentiment und Hass sind. Aggression ist generell eher ein Zeichen der Schwäche und mangelnder Souveränität als von Stärke, so auch im Falle der russischen Invasion in der Ukraine. 

Eine Niederlage ist keine Lösung

Russland sah sich bereits vor der Invasion auf der Verliererseite, sein Handeln war von Ressentiments und dem subjektiv empfundenen Gefühl der Demütigung aus der Ur-Niederlage von 1991 getrieben. Daraus ergibt sich im Falle einer weiteren Niederlage eine signifikante Potenzierung der Wahrscheinlichkeit einer nachfolgenden Konfliktivität und Aggressivität, wenn auch nicht sofort, sondern erst nach einigen Jahren. Die historischen Konflikterfahrungen haben Russland außerdem gelehrt, dass es im Falle eines militärischen Scheiterns Gefahr läuft, seine eigene territoriale Integrität zu verlieren.17 

„Man sollte verstärkt zu diplomatischen Mitteln greifen und Staaten des Globalen Südens einbeziehen.“

Somit ist eine Niederlage, die für Russland entweder eine weitere internationale Demütigung oder ein Risiko für den Fortbestand seines Staates und des herrschenden politischen Modells bedeuten würde, höchstwahrscheinlich mit schweren und kaum kontrollierbaren Folgen verbunden. Um diese zu vermeiden, sollte man verstärkt zu diplomatischen Mitteln greifen und Staaten des Globalen Südens einbeziehen, um die Kriegshandlungen zu beenden und damit Risiken und Folgen des Krieges zu minimieren.  

Es sind aktuell seine verbliebenen globalen Partner in Afrika, Asien und Lateinamerika, die Russland ggf. in einem multilateralen Rahmen aufzeigen könnten, dass sich ein militärischer Rückzug positiv auf Status und Ansehen des Landes auswirken würde. Auf längere Sicht könnte sich dies auch mit Blick auf Russlands künftigen Platz in der globalen Friedens- und Sicherheitsordnung sowie in der Weltwirtschafts- und Handelspolitik auszahlen. 


Sebastian Hoppe und Alexandra Sitenko:

Jede Strategie für den zukünftigen Umgang mit Russland hängt von den Konturen des erwünschten Ergebnisses ab. Vier Punkte stoßen wahrscheinlich auf breiten Konsens: Erstens geht es darum, das Blutvergießen in der Ukraine zu beenden und Menschenleben zu schützen – bei gleichzeitiger Wahrung der politischen Souveränität und möglichst großer territorialer Integrität der Ukraine. Zweitens gilt es, eine Ausweitung des Kriegsgeschehens auf andere Länder und eine direkte militärische Beteiligung von Nato-Staaten zu verhindern. Drittens darf es nicht zum Einsatz von Atomwaffen kommen. Und viertens muss Russland seinen Fehler realisieren, einen unilateralen Angriffskrieg begonnen zu haben. Hierzu gehören insbesondere die Anerkennung der verursachten Schäden in der Ukraine und eine entsprechende Entschädigung. 

Bei all dem sollte gleichwohl vermieden werden, dass Russland in eine europäische Nachkriegsordnung eintritt, in der es institutionell-diplomatisch und wirtschaftlich isoliert ist. Denn ausgehend von der Konstellation der historischen Ur-Niederlage von 1991, von der Russlands Weg in den Krieg seinen Ursprung nahm, erscheint es kontraproduktiv, das Land zu einem Paria-Staat zu machen. 

Internationales Settlement und interner Wandel


Die vier benannten Ziele verlangen nach einer klugen Strategie, möglicherweise in einer internationalen Koalition unter Beteiligung der UN und der Brics-Staaten, die den Aggressor seinen fatalen Fehler erkennen und die Notwendigkeit von Verhandlungen akzeptieren lässt. Westliche Politiker*innen und Öffentlichkeiten sollten anerkennen, dass die breite internationale Einbettung eines ukrainisch-russischen Settlements über den europäischen Kontext hinaus kein Entgegenkommen gegenüber Russland ist. Sie erfüllt vielmehr den doppelten Zweck, einerseits international Druck auf den Kreml auszuüben, der sich bisher weigert, die auch global destabilisierenden Konsequenzen seines Angriffs anzuerkennen, und andererseits das in den Augen Moskaus Existenzielle der Niederlage abzuschwächen.18 Die Strategie des Westens sollte Letzteres ernst nehmen, da es zu den unausgesprochenen Wahrheiten dieses Krieges gehört, dass es keinerlei historische Erfahrungen mit militärisch geschlagenen Atommächten gibt, deren Elite die erlittene Niederlage als existenzielle Gefährdung der eigenen Staatlichkeit wahrnimmt.

„Es bedarf einer klugen internationalen Strategie, die den Aggressor seinen fatalen Fehler erkennen und die Notwendigkeit von Verhandlungen akzeptieren lässt.“

Um sich an eine Nachkriegsordnung heranzuwagen, schlägt etwa der Historiker Vladislav Zubok eine Regelung vor, derzufolge westliche Regierungen Russlands amtierende Führung als legitimen Gesprächspartner anerkennen, sobald Moskau die UN-Charta und das Völkerrecht sowie seine internationalen Verträge, Abkommen und Verpflichtungen einhält. Das Streben der russischen Staatselite nach internationaler Anerkennung könnte hierbei durchaus als diplomatischer Hebel genutzt werden.19 Russland muss deutlich gemacht werden, dass ein Kriegsende mit politischen und ökonomischen Vorteilen verbunden ist. Aufgrund des fehlenden Vertrauens auf beiden Seiten wird es im Falle tatsächlich stattfindender Verhandlungen „notwendig sein, jedes auch noch so kleine Abkommen mit robusten Verifikationsklauseln und -mechanismen auszustatten“, wie der erfahrene Verhandler Wolfgang Sporrer betont.

Paradoxerweise ist der Weg zu derlei internationalen Konfliktbeilegungsmechanismen leichter vorstellbar als der zur zweiten notwendigen Voraussetzung eines Friedens, der seinem Namen auch gerecht wird. Russland, dessen Elite derzeit einen entfesselten Militarismus nach innen und außen als maßgebliches Mittel der Herrschaftssicherung gewählt hat, müsste sich intern soweit wandeln, dass die eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht durch zukünftige Regressionen seiner Politik infrage gestellt werden. 

Um auf den militärischen Sieg der Ukraine hinzuarbeiten und dennoch gleichzeitig keine erneute und noch revisionistischere Kultur der Niederlage in Russland zu schaffen, bedarf es daher aller vorhandenen politischen, diplomatischen und denkerischen Kreativität. Emmanuel Macrons Worte auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2023 sollten Warnung und Ansporn zugleich sein: „Es wird keinen dauerhaften und vollständigen Frieden auf unserem Kontinent geben, wenn es uns nicht gelingt, uns der Frage Russlands zu stellen, mit klarem Verstand und ohne jede Selbstgefälligkeit.“


Sebastian Hoppe ist Politikwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Sein Schwerpunkt liegt in der Politischen Ökonomie, Historischen Soziologie und den Internationalen Beziehungen. Alexandra Sitenko hat in Global Studies an der Universität Leipzig promoviert mit einer Arbeit über die Entstehung der russisch-lateinamerikanischen strategischen Partnerschaften zwischen 1992 und 2017 und ist freiberufliche politische Analystin. Gemeinsam mit Hera Shokohi bilden sie die Kuration dieses Kanals.

Fußnoten
19

Sofia Cavandoli und Gary Wilson: Distorting Fundamental Norms of International Law to Resurrect the Soviet Union. The International Law Context of Russia’s Invasion of Ukraine. In: Netherlands International Law Review. Band 69, Nr. 3, 2022, S. 383–410. https://doi.org/10.1007/s40802-022-00219-9

Yakov Feygin: Building a Ruin. The International Politics of Soviet Economic Reform. Harvard University Press, Harvard, MA. 2023, im Erscheinen.

Otto Boele, Boris Noordenbos und Ksenia Robbe (Hrsg.): Post-Soviet Nostalgia. Confronting the Empire's Legacies. Routledge Taylor & Francis Group, New York, London, 2021, ISBN 9780367343996.

Gulnaz Sharafutdinova: The Red Mirror. Putin's Leadership and Russia's Insecure Identity. Oxford University Press, Oxford 2020, ISBN 9780197502969, S. 68.

Archie Brown: Russia and Democratization. In: Problems of Post-Communism. Band 46, Nr. 5, 1999, S. 3–13. https://doi.org/10.1080/10758216.1999.11655847

Kristen Rogheh Ghodsee und Mitchell A. Orenstein: Taking Stock of Shock. Social Consequences of the 1989 Revolutions. Oxford University Press, New York, NY 2021, ISBN 9780197549278. Zur Kritik der Annahme einer linearen kapitalistischen Transformation siehe Venelin I. Ganev: The Spell of Marx and Jeffrey Sachs. Social Theory and Post-Communist Politics. In: East European Politics & Societies. Band 29, Nr. 2, 2015, S. 440–452. https://doi.org/10.1177/0888325415569762

Ausnahmen sind Robert E. Harkavy: Defeat, National Humiliation, and the Revenge Motif in International Politics. In: International Politics. Band 37, Nr. 3, 2000, S. 345–368. https://doi.org/10.1057/palgrave.ip.8890515; Jan Ångström und Isabelle Duyvesteyn: Understanding Victory and Defeat in Contemporary War. Routledge, London 2007, ISBN 9780203967683; Dominic D. P. Johnson: Failing to Win. Perceptions of Victory and Defeat in International Politics. Harvard University Press, Cambridge 2009, ISBN 9780674023246. Zwei Ausnahmen, die versuchen, die Kategorie der Niederlage für die Analyse des post-sowjetischen Russlands fruchtbar zu machen, sind Andrei P. Tsygankov: Russia and the West from Alexander to Putin. Honor in International Relations. Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 1139526448 und Ayşe Zarakol: After Defeat. How the East Learned to Live With the West. Cambridge University Press, Cambridge 2011, ISBN 9780521145565.

Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Fest, Berlin, 2001, ISBN 3828601650.

Liana Fix und Michael Kimmage: Putin’s Last Stand. The Promise and Peril of Russian Defeat. In: Foreign Affairs. Band 102, Nr. 1, 2023, S. 8–21.

William Hill: No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989. Columbia University Press, New York, NY 2018, ISBN 9780231801423.

Sebastian Hoppe: Kategoriale Dissonanzen. Russlands regressiver Weg in den Krieg und die Historische Soziologie imperialistischer Außenpolitiken. In: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung. Nr. 2, 2022, im Erscheinen.

John Maynard Keynes: The Economic Consequences of the Peace. With a new Introduction by Michael Cox. Palgrave Macmillan, Cham 2019, ISBN 9783030047597.

Entsprechend argumentiert zum Beispiel die estnische Premierministerin Kaja Kallas in ihrem Artikel in Foreign Affairs: https://www.foreignaffairs.com/russian-federation/no-peace-putins-terms. Oder der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, der im April 2022 davon sprach, Russland so weit schwächen zu wollen, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan habe, nicht mehr tun könne: https://nypost.com/2022/04/26/lloyd-austin-finally-admits-us-wants-putin-completely-defeated/.

Als negative Folgen nennt die Analyse der RAND Corporation u.a. die steigenden Energiepreise, die insbesondere Europa stark treffen. Auf globaler Ebene hat der Krieg die globale Ernährungsunsicherheit verstärkt sowie die Arbeit multilateraler Institutionen wie der UNO in ihrer Fähigkeit gelähmt, kollektive Antworten auf gemeinsame Herausforderungen zu finden. Russlands vertiefte militärische Zusammenarbeit mit dem Iran könnte dazu führen, dass Moskau in den Fragen der Nichtverbreitung von Atomwaffen zum Bremsklotz wird, was wiederum gegen die Interessen Washingtons ist: https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html

Laut Barnhart ist die Wahrscheinlichkeit, einen neuen Streit zu beginnen, bei den Staaten, die gegen Gegner mit weniger Fähigkeiten verloren haben, um 97 Prozent höher als für die Staaten, die gegen Gegner mit gleichen oder größeren Fähigkeiten verloren haben. In ihrer Analyse verwendet sie ein länderübergreifendes Design mit Daten über Konfliktinitiierung und Konfliktausgänge aus den Datensätzen von Correlates of War, die den Zeitraum von 1816 bis 2007 umfassen. S. Joslyn Barnhart, The Consequences of Defeat: The Quest for Status and Morale in the Aftermath of War. In: Journal of Conflict Resolution, 2021, Bd. 65 (1), S. 195-222. DOI: 10.1177/0022002720942585. 

Deborah Welch Larson, Social Identity Theory: Status and identity in International Relations, 2017: https://doi.org/10.1093/acrefore/9780190228637.013.290

Der schwedische Forscher Stefan Hedlund erinnert daran, dass Moskowien nach der Niederlage gegen Schweden im Livländischen Krieg im Jahr 1598 mehr als ein Jahrzehnt gebraucht hat, um den Staat wiederherzustellen. 1905 löste eine vernichtende russische Niederlage gegen Japan blutige Unruhen in St. Petersburg aus, die das Hause Romanow schwer geschwächt hatten. Und schließlich löste 1917 eine Reihe von Niederlagen gegen Deutschland die bolschewistische Revolution und den Bürgerkrieg aus. Siehe Stefan Hedlund, Scenarios for a postwar Russia: Survival or Collapse? https://www.gisreportsonline.com/r/postwar-russia/.

Jo-Ansie van Wyk: Anger in International Relations. In: Politeia, Bd. 40, Nr. 1, 2021. https://doi.org/10.25159/2663-6689/6922

Deborah Welch Larson: How identities form and change: Supplementing constructivism with social psychology. In: Vaughn P. Shannon/Paul A. Kowert, Psychology and Constructivism in International Relations: an Ideational Alliance, 2012, University of Michigan Press, Ann Arbor, S. 57-75. ISBN 978-0-472-02781-1

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Ein Paria-Staat ist ein Staat, dessen Verhalten  entweder vom Rest der internationalen Gemeinschaft (z.B. den Vereinten Nationen) oder von einigen der mächtigsten Staaten als nicht im Einklang mit internationalen Verhaltensnormen stehend angesehen wird. Ein Paria-Staat kann mit internationaler Isolation, Sanktionen oder sogar einer Invasion durch andere Staaten konfrontiert werden, die seine Politik oder sein Handeln für inakzeptabel halten.

Der „kollektive Westen” ist ein Begriff , der seit etwa Mitte der 2000er Jahre vermehrt im russischen politischen Diskurs Verwendung findet. Er orientiert sich am Begriff des „Westens”, der insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges als Selbstbeschreibung für eine lose kulturelle, ökonomische und politische Gruppe von Staaten verwendet wurde, die vor allem Nordamerika, West- und Zentraleuropa sowie einzelne pazifische Staaten wie Japan, Südkorea und Australien umfasst. "Kollektiver Westen" hat sich in Russland selbst mittlerweile zu einem pejorativen Begriff entwickelt, der die vermeintliche Feindschaft westlicher Staaten gegenüber Russland ausdrücken soll.

Politische Ökonomie bezeichnet hier einen Ansatz, der die Erklärungskraft ökonomischer Strukturen betont und in seinen Modellen rationale, also den eigenen Nutzen maximierende Individuen voraussetzt.

Bei der sog. Dolchstoßlegende handelt es sich um eine Verschwörungstheorie, die von der Obersten Heeresleitung (OHL) des Deutschen Reichs zum Ende des Ersten Weltkriegs verbreitet wurde. Sie besagt, dass die deutsche Armee eigentlich „im Felde unbesiegt" geblieben ist, jedoch insbesondere von der Sozialdemokratie, anderen demokratischen Politiker*innen und dem „bolschewistischen Judentum“ in die militärische Niederlage getrieben wurde. Oft wurde auch antisemitisch auf des „internationale Judentum" verwiesen, welches angeblich ebenfalls an der „Erdolchung" des deutschen Militärs beteiligt war.

Mit der Bezeichnung des „karthagischen Friedens” bezeichnete Keynes den Umstand, dass die in den Versailler Verträgen formulierten Bestimmungen seiner Ansicht nach für den Umgang mit dem besiegten Deutschland zu hart waren. Ähnlich wie E. H. Carr kritisierte Keynes, dass diese Bedingungen zu einem Scheitern der Nachkriegsordnung und einem deutschen Revanchismus führen würden.

In der Forschung werden diese zeitgenössischen Warnungen mittlerweile kritisch gesehen - nicht zuletzt da der Weg in den deutschen Nationalsozialismus nicht nur durch internationale, sondern vor allem nationale Entwicklungen getrieben wurde. Zudem waren die tatsächlich in den Versailler Verträgen formulierten Bedingungen keineswegs so drakonisch, wie Carr und Keynes sie darstellten.
Auch Keynes selbst relativierte in späteren Stellungnahmen seine ursprüngliche Einschätzung, die unmittelbar unter dem Eindruck der Versailler Verhandlungen entstanden war.

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Du antwortest auf den Beitrag: "Zur Wünschbarkeit der Niederlage".

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Hochinteressanter und dankenswerter Artikel!

Ein wenig philosophische Frage ist, wieweit man die naheliegende und auch von mir selbst sofort gedachte Strukturallegorie des Deutschland-Verhaltens nach erstem und vor Ende des zweiten Weltkriegs anwenden kann. Eine wirklich schwierige Frage…

Am Ende passt die von mir gerade verwendete Allegorie aber insofern nicht, als ein “totaler Sieg” wie der der damaligen Alliierten hier nicht vorstellbar und wohl auch völlig unrealistisch ist.

Insofern gibt sie leider auch kaum Möglichkeiten der Orientierung für das gegenwärtige Geschehen.

Merke: Prognosen sind immer schwierig. Besonders wenn sie sich mit der Zukunft beschäftigen ;-)

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Sie haben vollkommen Recht, dass sich aus dem 45er Szenario nicht wirklich politische Handlungsempfehlungen ableiten lassen. Der fundamentale Unterschied besteht tatsächlich in den 9000 russischen Nuklearraketen.

Im Kern ging es mir hier eher darum aufzuzeigen, dass es verschiedene Typen von Niederlagen gibt, mit ganz unterschiedlichen Vorgeschichten und Konsequenzen. Und diese Typen lassen sich nicht (ausschließlich) mit der Begrifflichkeit des Völkerrechts einfangen.

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Sicherheitshalber vorab nochmal: meinen Respekt und meinen Dank für Ihren Beitrag! Vor diesem Hintergrund darf ich mir sicher Kritik - lediglich - im Sinne abweichender Meinung/Einschätzung erlauben:

Wenn Hitler 9’000 Nuklearraketen gehabt hätte, dann hätte er sie wohl eingesetzt. Tendenziell ab der zweiten Hälfte von 1944 (nur meine Laienmeinung :-).

Weil Putin aber nicht die gleiche Vernichtung wie Hitler zu erwarten braucht, gibt es für ihn Güterabwägungen, aus denen heraus vermutlich “nicht mal” taktische Nuklearbomben sinnvoll wären.

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Letzteres wurde wohl, glaubt man den Recherchen der Financial Times, bereits im Kreml durchgespielt und vorerst für nicht zielführend erachtet.

https://www.ft.com/content/80002564-33e8-48fb-b734-44810afb7a49?s=09 (leider hinter der Paywall). Der Artikel ist sehr zu empfehlen.

Und was vom Ausgangsartikel abweichende Meinungen angeht: Das hier ist genau der richtige Ort :-)

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Wirklich ein bemerkenswerter Beitrag!

In dieser geschichtsvergessenen Zeit ist es wichtig, den historischen Kontext auszuloten. Sehr gut ist auch die Form: durchaus unterschiedliche Perspektiven werden gegenübergestellt und dort, wo es übereinstimmende Positionen gibt, werden sie benannt. Nachdenken sollte jeder selbst, aber dafür stehen verschiedenste Argumente zur Verfügung.

Vielen Dank!

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Wenn ich mich mal frech in Ihrer beider Diskussion einmischen darf:

Natürlich sollte jeder selbst nachdenken... Aber das erfordert, ganz elementar gesehen, erstens die Fähigkeiten zum (komplexen) Nachdenken und zweitens die erforderlichen Basis-Informationen. Auch “wir” wissen nicht, was gültige Basis-Information ist und was eher nicht. Im Krieg geht es um Durchhaltewillen (wie schon Clausewitz sagte) und um die die dafür notwendige Progaganda, hier auch die - erhebliche - des Westens. Ich selbst wünsche mir mit jeder Faser meiner Emotion und meines Intellektes einen “echten” Sieg der Ukraine, aber daran ist auch erheblich Wunschdenken beteiligt. Wie aus einem ernüchternden Artikel der NZZ deutlich hervorgeht. Hilfreich ist mMn auch der folgende Artikel.

Ganz langer Rede sehr kurzer Sinn: Die Chance zu treffsicherem Nachdenken ist viel kleiner als man wünscht.

Und zu Hoppe’schen historischen Vergleichen: “Die Deutschen”, und das waren keine dummen Leute, haben lange an den Endsieg geglaubt.

So, jetzt ziehe ich mich aus der Einmischung mal wieder zurück ;-)

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Vielen Dank! Ich sehe auch eher das Komplementäre unserer Positionen als das “entweder-oder“. Das Nachdenken über eskalatorische Risiken einer russischen Niederlage sollte m.E. genauso Platz haben wie der Hinweis, dass zukünftige Abkommen mit Russland solange instabil bleiben, wie sich die innenpolitischen Koordinaten des Landes nicht verändern.

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zukünftige Abkommen mit Russland [bleiben] solange instabil , wie sich die innenpolitischen Koordinaten des Landes nicht verändern”.

Das drücken Sie - und leider haben Sie ja Recht - sehr zurückhaltend aus…

Zu Minsk II von 2015 sagt Wikipedia:

“traten russlandtreue Kämpfer sowie russische Truppen[4] zum Sturm auf Debalzewe an und eroberten den Ort drei Tage nach der offiziell verkündeten Waffenruhe, womit das Abkommen bereits gebrochen war”

“… wie sich die innenpolitischen Koordinaten des Landes nicht verändern.“

Wie schon acknowledged, stimmt dieser Aspekt nicht gerade hoffnungsvoll… Man kann schon verstehen, warum die Balten heftig überproportionale Ukraine-Hilfen leisten…

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Zur Abrundung unserer Thematik möchte ich hier einen Artikel empfehlen, der mMn die Dimension des Geschehens auf den Punkt bringt. Vom Chefredakteur der NZZ. Die - mMn - ja sowieso die einzige deutschsprachige Tageszeitung ist, die man lesen darf, ohne in die Nähe der Gefahr eines Verblödungsverdachts zu geraten… ;-)

Die These aus der Unter-Überschrift: “Der Ukraine-Krieg ist mehr als ein regionaler Konflikt. Er hat eine globale Dimension. China baut seinen Einfluss aus, die Schurkenstaaten Iran und Nordkorea liefern Munition und Waffen. Europa weiss keine Antwort auf die geopolitischen Herausforderungen.

mag zunächst ein bisschen harmlos klingen, aber sie startet einen kraftvollen, stellenweise wuchtigen Artikel… Wichtige Thesen sind mMn:

Die chinesischen Kommunisten sind allerdings zu klug, um ihren Triumph über Moskau laut herauszuposaunen.

Sinkt Russland zu einem Klientelstaat herab, entscheidet Peking indirekt über die Zukunft Europas mit

…wird man mit Russland nach Putin wieder über eine Friedensordnung reden müssen. Das Land ist zu gross, als dass man es auf Dauer ignorieren könnte. Das mag erst in zwanzig Jahren der Fall sein, aber Peking unternimmt viel, um dann in der ersten Reihe zu sitzen.

Herr Gujer spricht es wie oben nur zurückhaltend an, aber mMn sitzt auch heute schon Russland deutlich in der zweiten Reihe. Um es mir bequem zu machen, copy’n’paste ich einfach einen Kommentar, den ich kürzlich in der NZZ geschrieben hatte. Das China in der ersten Reihe hält es aber taktisch noch für unzweckmässig, dieses jetzt schon allzu offensichtlich zu dokumentieren. Zur Erläuterung hier meine Sicht aus dem Kommentar:

“… Tja, in einer strategischen Bewertung ist genau das schon eine ziemlich weit zurückliegende Vergangenheit:

Putin ist für Xi das, was Lukaschenko für Putin ist. Oder ausserhalb einer nicht so ganz zielführenden Vermenschlichung: Russland ist für China das, was Weissrussland für Russland ist. Das Thema ist längst erledigt. 

Irritieren lassen sich einige, weil es vor den Kulissen noch Symbol-Arbeiten abzuarbeiten gilt. So wie Lukaschenko (schon wieder meine/unsere) Personalisierung :-) ja noch weissrussischer Boss ist. Bevor das weissrussische Brudervolk wieder in die russische Föderation zurückkehrt.

Wie die Chinesen aus Russland eine Art von Brudervolk machen werden, das kann der gute Herr Kübler auch nicht sagen, und dabei würde er sich auch erheblich überheben ;-). Aber die grossen Köpfe dürften davon schon zum allermindesten vage Vorstellungen haben.”

Was angesichts der vielen Feuerwerksraketen von Russland oft übersehen wird, das sind die wirtschaftlichen Dimensionen: Russland hat gerade mal so viele Einwohner wie Deutschland plus Frankreich. Aber auch nach Kaufkraftparität nur knapp über 50% des Bruttoinlandsproduktes der beiden. Die Rohstofffrage ist zwar nicht vernachlässigbar, wird aber meistens überschätzt. Und Russland hat weniger als ein Fünftel des chinesischen Bruttoinlandsproduktes! Heute schon. Wobei man bzgl. China ja solche Wachstumsraten schon für einen signifikanten Einbruch hält, die man bei Deutschland für eine völlig unvorstellbare Wirtschaftsexplosion halten würde (Konjunktiv). Die kommenden demographischen Krisen Chinas dürften das nicht im Grundsatz ändern.

Genug für heute.

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„DIE KRIEGSENTSCHEIDUNG SELBST IST BEREITS DAS ERGEBNIS EINER NIEDERLAGE. WAS NUN DROHEN KÖNNTE, IST DIE NIEDERLAGE NACH DER NIEDERLAGE.“

Das stimmt so nicht. Die Kriegsentscheidung ist das Ergebnis der Interpretation des Zusammenbruches des Sowjetimperiums als Niederlage Rußlands. Und das ist eine Interpretation der gegenwärtig herrschenden russischen Eliten. Die versuchen das Narrativ ihrem Volk zu verkaufen - großteils leider erfolgreich. Aber diese Erzählung impliziert, dass sich Rußlands Eliten als Herrscher(volk) gegenüber den Völkern der Sowjetunion und wenn man die Töne so hört, auch Osteuropas überhaupt sehen. Diese anderen Völker sehen die Geschichte als Befreiung vom kolonialen Joch Rußlands.

D.h. auch, dass die empfundene (Ur?)Niederlage folge imperialer Siege war, die letztendlich zu einer Überdehnung des Imperiums geführt haben. In dem Sinne geht es nicht darum, ob eine Niederlage wünschbar ist oder nicht. Es geht darum, ob es überhaupt möglich ist, dieses Selbstverständnis des Kreml als Imperium zu verändern. Wie konkret soll das ohne so was wie eine Niederlage möglich sein?

Solche Sätze sind doch reine Sophistik:

„ES BEDARF EINER KLUGEN INTERNATIONALEN STRATEGIE, DIE DEN AGGRESSOR SEINEN FATALEN FEHLER ERKENNEN UND DIE NOTWENDIGKEIT VON VERHANDLUNGEN AKZEPTIEREN LÄSST.“

Rußland ist selbst Akteur, der sich nicht zum Gegenstand “einer klugen Strategie” machen läßt. Es sei denn, er kann nicht anders. Was natürlich für ihn eine Niederlage wäre. Also, jeder gewonnene Quadratmeter Boden wird als Sieg interpretiert werden. Und Ausgangspunkt für weitere Siege gesehen werden. Ich befürchte, ohne Kampf bis zur fast völligen Erschöpfung Rußlands wird es nicht gehen. Die Realität ist in einer “Zwickmühle”, die sich nicht auf dem rhetorischen Spielbrett lösen läßt. Da ist eigentlich alles gesagt. Es geht nicht ums Wünschen, es geht um Macht. Wir werden sehen ….

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Gute Beiträge, danke dafür!

”Wer eine totale russische Niederlage zum ultimativen militärischen Ziel erklärt, sollte schließlich daran denken, dass diese unter Umständen den Boden für zukünftige neue militärische Auseinandersetzungen zwischen einstigen Kriegsgegnern bereiten könnte, statt den Konflikt nachhaltig zu lösen.”
Das sehe ich anders. Ohne eine militärische Niederlage könnte Russland entweder nach dem 24.02 eroberte Gebiete besetzt halten und damit nach der Denkweise der russischen Nationalisten und bedeutender Teile der Bevölkerung einen Sieg erringen, oder aber die für einen Kompromissfrieden ohne Gebietsgewinne verantwortliche Regierung müsste sich einer Dolchstoßlegenden-Situation ähnlich wie 1918 aussetzen. Im ersten Fall würde der Ukrainefeldzug als nachahmenswerte Schablone dienen, im zweiten Fall würde der nationalistischen Opposition hervorragende Munition geliefert, um die kompromissbereite Regierung anzugreifen. Beides würde den Konflikt bzw. die Kriegsgefahr in die Zukunft fortsetzen.

“Es sind aktuell seine verbliebenen globalen Partner in Afrika, Asien und Lateinamerika, die Russland ggf. in einem multilateralen Rahmen aufzeigen könnten, dass sich ein militärischer Rückzug positiv auf Status und Ansehen des Landes auswirken würde.”

Das setzt voraus, dass Russland an Status und Ansehen im Ausland interessiert ist UND die verbliebenen Partner ein Interesse daran haben, auf Russland einzuwirken. Für die russische Regierung wird die für den Machterhalt wichtige Wirkung nach innen immer die Wirkung nach außen überstimmen, wie wenig der globale Süden über Worte hinaus auf Russland einwirken mag, sieht man daran, dass er sich nicht auf Staatenebene den Sanktionen angeschlossen hat.

Atommächte und ihre Regierungen können keine existenziellen Kriege verlieren, sehr wohl aber Kriege auf einem darunter liegenden Schweregrad. Der russische Staat ist durch eine militärische Niederlage in der Ukraine nicht gefährdet, da weder Westen noch Ukraine Eroberungsabsichten hegen. Die russische Regierung unter Putin ist das schon eher, aber auch keinesfalls sicher-jedenfalls nicht im Vergleich zu einem Szenario nuklearer Eskalation. Der Einsatz von Kernwaffen bei einer drohenden militärischen Niederlage ist keinesfalls eine offensichtliche Option für Putin, auch weil das neutrale oder verbündete Staaten verschrecken würde. Die Chinesen etwa haben an einem konventionellen Krieg in der Ukraine ihre Vorteile, bei einer nuklearen Eskalation aber wenig zu gewinnen und viel zu verlieren. Putin und seine Sicherheitsdienst-Elite können eine Niederlage in der Ukraine durchaus überleben. Saddam Hussein hat das Patt im Irakisch-Iranischen Krieg und die desaströse Niederlage im ersten Golfkrieg samt folgender sanktionsbedingter Wirtschaftskrise überstanden. Dieser Weg, im vergleich zu einer unberechenbaren nuklearen Eskalation, wäre eine attraktive Option für Putin und ein begrüßenswertes Szenario (im Vergleich zu einem ewig eingefrorenen Konflikt oder Verlust lebenswichtiger Gebiete) für die Ukraine. Voraussetzung ist, dass der Westen noch stärker mit Waffen unterstützt, und Putin Geschlossenheit und Härte auch bei Einsatz von russischen Kernwaffen signalisiert.

PS: Aus meiner Sicht hat Putin mit dem Krieg zwei Ziele:

  1. Absicherung der Macht nach innen durch einen erfolgreichen Feldzug nach dem Vorbild von 2000, 2008, 2014, nach dem unerwartet harten Widerstand wird der Krieg nun als Grund für stärkere Repression und Kontrolle der Gesellschaft verwendet.

  1. Zerstörung langfristig für das imperiale Russland und das System Putin unangenehmer oder gar gefährlicher kultureller Memes. Eine demokratische, prosperierende, westlich ausgerichtete Ukraine wäre für das autoritäre Russland eine Gefahr wie es die BRD für die DDR war. Deswegen muss dieser Staat unter Kontrolle gebracht oder zumindest destabilisiert und geschädigt werden.

Das erster Ziel hat Putin teilweise erreicht. Wenn Russland keine klare militärische Niederlage erleidet und weitgehend von ukrainischem Gebiet verdrängt wird, würde er auch das zweite Ziel erreichen. Denn von der aktuellen Linie aus kontrolliert Russland den Unterlauf des Dnepr, das wichtigste ukrainische Kraftwerk, hat viele wichtige ukrainische Städte und Verkehrswege in Feuerreichweite und hält selbst bei einem Waffenstillstand die Ukraine in einer Schwebeposition, in der sie sich kaum entwickeln kann.

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Danke für diesen ausführlichen und gehaltvollen Kommentar. Ich sehe es ähnlich wie Sie: Auch Nuklearmächte können durchaus Niederlagen erleiden. Diese müssen nicht automatisch zur nuklearen Eskalation führen (siehe US-Niederlagen seit Vietnam, Frankreich nach Algerien oder Sowjetunion nach Afghanistan). Wobei natürlich ein Eskalationsrisiko bleibt, dass man nicht völlig ausblenden kann, vor allem wenn, wie im russischen Fall, die derzeitige staatliche Elite ihr persönliches Schicksal gleichsetzt mit der Existenz des Staates.

Meiner Meinung nach sollte es das erklärte Ziel westlicher Politik sein, den als selbstverständlich empfundenen Verfügungsanspruch des Kreml über die ukrainische Politik zu durchbrechen. Das schließt nicht aus, mit einem zukünftigen Russland über sicherheitspolitische Angelegenheiten zu verhandeln und auch Kompromisse zu schließen, etwa was die Stationierung bestimmter Waffensysteme angeht. Aber solange Putins Zirkel überzeugt ist, ein Recht über die Gestaltung der ukrainischen Innen- und Außenpolitik zu haben, führt m.E. an einer Niederlage, die auch im Kreml als solche realisiert wird, nichts vorbei.

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"Russland müsste sich als Konsequenz einer Nachkriegsordnung fügen, die es erneut als Marginalisierung und Verdrängung aus dem Kreis der Großmächte empfinden würde."

Da hat es auch einfach nichts mehr zu suchen! Die aktuellen Großmächte sind USA, China und teilweise EU. Die spielen wirtschaftlich in der selben Liga und wenn die EU es eines Tages auch schafft ihr Verteidigung zu vereinen auch dort.

Russland spielt da wirtschaftlich und konventionell militärisch mindestens eine wenn nicht zwei Klassen drunter.

Das einzige Argument für "Großmacht" sind die Atomwaffen. Aber das kann den die beiden anderen fehlenden Aspelte Wirtschaftskraft und damit verbunden die konventionelle Rüstung nicht ausgleichen.

Damit Russland nach einer Niederlage nicht dem Revanchismus verfällt wäre es am besten wenn es aueinanderfallen würde und die Einzelteile damit noch kleiner und unwichter werden. Russland zusammenzuhalten nur damit wir uns dem Problem der Atomwaffen nicht stellen müssen ist mir als Begründung zu dünn.

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