Immer wieder entzündet sich der Streit über das geschlechtergerechte Sprechen im Deutschen am sogenannten
Martin Krohs: Ich finde diese neue Studie von Dominic Schmitz, Viktoria Schneider und Julia Esser außerordentlich interessant, weil sie eine zweite Form von Empirie hinzufügt. Neben die – notorisch schwierig zu erhebenden – psychomentalen Daten aus der Psycholinguistik stellt sie nun auch Daten des Textkorpus selbst. Und ich würde auch zustimmen, es bestätigt den Tenor der psycholinguistischen Untersuchungen.
Die Frage, die ich mir stelle, ist aber: Welchen Stellenwert hat Empirie hier überhaupt, auf welcher der beiden Methoden sie auch beruhen mag? Diese Frage kann natürlich erst einmal anti-wissenschaftlich scheinen. Denn womit, wenn nicht mit experimentellen Daten, können wir sonst unser Urteilen über sprachliche Phänomene halbwegs sicher begründen?
Aber gerade das ist der springende Punkt. Ich zweifle an, dass der sprachliche oder kognitive oder psychomentale status quo überhaupt ausschlaggebend ist für die Frage: Wie generisch ist das generische Maskulinum? Es geht bei der Frage der
„Es geht bei der Frage der Generizität viel weniger um Fakten als um das Wollen.“ – M.K.
Man kann das gerade im Zusammenhang des Genderns gut beobachten. Für diejenigen, die Genderpraktiken selbst konsequent anwenden, verlieren solche Formen, die von den Sprechern oder Autoren generisch intendiert waren (aber formal mit den
Das geschlechtsspezifisch-lesen-Wollen hat also den status quo der Sprache verschoben, weg von der Generizität. Und mein Argument ist nun, dass man auch andersherum wollen kann, nämlich hin zur Generizität. Man kann wollen, die ambigen Formen mögen beide Lesarten haben, je nach Kontext die explizite/spezifische oder eben die generische. Oder man kann sogar wollen, sie mögen überhaupt vor allem generisch sein. Das wäre das genaue Gegenprogramm zum Programm des Genderns. Und wenn ich dieses Programm verfolge – wenn ich also will, dass alle Professoren bedeuten möge: Professoren jeglichen Geschlechts –, dann werden sich auch meine Assoziationen in diese Richtung verändern. Und wenn viele Sprachteilnehmer das wollen, dann wird auch die Semantik des Textkorpus dieser Veränderung nachfolgen. Und in diesem – hypothetischen – Fall würde dann in 20 oder 30 Jahren eine empirische Untersuchung des status quo etwas ganz anderes ergeben als heute, nämlich, dass im Deutschen, um den Titel des Papers aufzugreifen, alle Professoren beliebiges Geschlecht haben.
Deshalb glaube ich nicht, dass empirische Untersuchungen wie diese eine hohe Aussagekraft haben. Sie sagen uns, wie diese oder jene Form verstanden wird, aber sie helfen uns nicht bei der Entscheidung, wie wir diese Formen verstehen wollen – gerade das ist aber für die Richtung des Sprachwandels entscheidend. Dieses aus dem Verstehen-Wollen herkommende
Julian Andrej Rott: Ich verstehe, was du meinst. Ich bin auch eine Person, die sich die gendergerechte Sprache selbst beigebracht hat. Aufgewachsen bin ich, wie vermutlich die meisten, mit dem generischen Maskulinum, ab und zu ein Binnen-I. Während des Studiums gab es dann die Form Studierende. Dann erinnere ich mich auch an mittagspäusliche Gespräche mit Kolleg*innen aus meinem Institut, in denen wir uns überlegten, wie man wohl eine gerechte Form für alle am ehesten sprachlich umsetzen könnte. Das liegt gerade erst ein paar Jahre zurück, und dann plötzlich war da die Form mit Sternchen, zunächst nur geschrieben. Und dann kam der
Wahrscheinlich wäre es auch möglich, einen solchen Prozess mit dem generischen Maskulinum zu vollziehen: Sich bewusst dazu anzuhalten, diese Form immer gendergerecht zu interpretieren. Wenn man für so ein Unterfangen eine kritische Masse in einer Sprachgemeinschaft erreicht, wäre es sicher machbar, die Bedeutung zu verschieben. Semantischer Wandel passiert konstant, meist ungesteuert, aber gerade bei Begriffen, die bestimmte Gemeinschaften betreffen, gibt es solche ganz willentlich gesteuerten Phänomene. Diverse Schimpfwörter für gesellschaftliche Minderheiten wurden mittlerweile nach dem Motto behandelt Reclaim the word! und in erneuerter Bedeutung von der Allgemeinheit zurück-übernommen. Ein Begriff wie schwul ist (für die meisten) kein Schimpfwort mehr, sondern eine neutrale Bezeichnung.
Der Unterschied ist aber, dass es für all diese Prozesse einen konkreten sprachlichen Angriffspunkt gab. Bei den Beleidigungen ist es ein spezifisches Wort, bei der gendergerechten Sprache eine Endung bei der Wortbildung. Es sind physisch präsente Einheiten, mit denen gearbeitet wird – seien es Schallwellen in der Luft, Tinte auf Papier oder farbige Pixel auf einem Bildschirm. Die Ungerechtigkeit ist gegenwärtig. Bei dem, was du vorschlägst, ist das nicht so. Es gibt dann, außer man möchte es, keinen Anlass dazu, sich mit der Benachteiligung einzelner Gruppen zu beschäftigen. Natürlich kann man unterstellen, die meisten Menschen hätten schon Interesse an einer Verbesserung der Umstände für alle. Ich denke, dass das sogar stimmt. Und viele Verfechter*innen des generischen Maskulinums sagen von sich selbst jetzt schon, dass sie die Form gar nicht rein männlich lesen. Das Problem dabei ist nur: Es gibt dann, außerhalb der Köpfe jeder*s Einzelnen, keine sprachliche Bühne für dieses Bestreben.
„Damit ein Bedeutungswandel erreicht werden kann, braucht es konkrete sprachliche Angriffspunkte.“ – J.A.R.
Ich würde sogar noch weiter gehen: Wenn wir es nicht kenntlich machen, dass uns die Belange benachteiligter Gruppen interessieren, dann haben sie auch keinen Grund, uns zu glauben. Woher sollte ich als nicht-binäre Person wissen, ob ich mitgemeint bin, wenn jemand von Linguisten redet? Selbst wenn es einen großen Diskurs in der Gesellschaft um eine Neuinterpretation des Maskulinums gäbe, ähnlich dazu, wie wir jetzt übers Gendern reden – ich weiß nicht, wie mein Gegenüber es meint, denn ich höre es ihm nicht an. Die Inklusion ist dann nicht mal ein Lippenbekenntnis.
Martin Krohs: Dein Beispiel schwul finde ich sehr gut, denn das ist ja wirklich so ein vorsätzliches reclaim the word! Wir sind uns also erstmal einig, dass Bedeutungen willentlich umgedeutet oder sozusagen umgehört werden können, und ebenso denke ich, dass sich auch grammatikalische Kategorien wie
Denn diese Nur-Männlichkeit ist ja nicht etwas, das sie nun auf einmal in der Sprache entdeckt hätte, nach der Art: Oh, das haben wir ja vorher gar nicht bemerkt! Sprache ist ja immer deutungsbedürftig. Wenn wir etwa Sprachliches verstehen, dann interpretieren wir es, dann greifen wir spezifische Bedeutungsanlagen auf und verwerfen andere. Und Pusch hat die Anlage männlich aufgegriffen und die Anlage generisch verworfen, und in der Folge hat ein Teil der Sprachcommunity das übernommen und ist zu den Praktiken des Genderns übergegangen.
„Luise Pusch hat die Bedeutungsanlage männlich aufgegriffen und die Anlage generisch verworfen.“ – M.K.
Man hätte eben auch den anderen Pfad einschlagen können, und man hätte dabei mit dem generisch-verstehen-Wollen sogar genauso radikal sein können wie Pusch mit ihrem männlich-verstehen-Wollen. Man hätte sagen können: Nein, wir wollen eine Form wie „die Kunden“ überhaupt nicht mehr männlich verstehen, sondern nur noch generisch! Das wäre ja völlig naheliegend, denn auch Adjektive haben im Deutschen im Plural kein Genus (kluge Linguisten, kluge Linguistinnen – ganz egal) und
Und die Frage, die du eben am Schluss formuliert hast: Woher sollte ich als nicht-binäre Person wissen, ob ich mitgemeint bin, wenn jemand von Linguisten redet? – die müsstest du dann gar nicht mehr stellen. Der ganze Einwand des „nur-Mitmeinens“ würde überhaupt hinfällig. Denn Linguisten meint dann immer alle Geschlechter, genauso wie Leute oder Eltern immer alle meint.
Natürlich müsste man sich weiter fragen, was so ein generischer Plural dann für den Singular bedeutet. Aber worauf ich erstmal hinaus will: Wir sind da in eine falsche Richtung abgebogen mit unserer, ich nenne es mal Wollens-Steuerung der Sprache. Der Witz ist ja, dass beide Richtungen die Sprache gerechter gemacht hätten, nur der Aufwand an sprachlichen Eingriffen wäre bei der Gegenvariante zu Pusch viel geringer gewesen. Wir könnten uns dieses ganze Gezerre um Sternchen, Binnen-Is und Glottisschläge sparen.
Du sagst jetzt aber, wenn man dem Weg des generisch-Machens oder als-generisch-verstehen-Wollens gefolgt wäre, dann hätte das dem Anliegen der Inklusion nicht genutzt, weil man ihm keine Bühne gegeben hätte. Das kann ich nicht nachvollziehen. Warum ist es für dich so wichtig, dass die Anliegen der Inklusion an den einzelnen Wörtern sichtbar gemacht werden? Ist es nicht viel wichtiger, sie in der Sache sichtbar zu machen und die Sprache dann mit ihnen kompatibel zu halten?
Julian Andrej Rott: Du nennst da direkt am Anfang deiner Antwort einen ganz wichtigen Aspekt, der, denke ich, auch mit deiner Frage zu tun hat: Dass man grammatikalische Kategorien genauso wie Wörter umhören könne. Das sehe ich etwas anders. Es gibt eben einen Unterschied zwischen Elementen der Grammatik und Wörtern, also lexikalischen Formen. Letztere sind greifbar, sie haben eine ganz spezifische Bedeutung und referieren gerade im Falle der Personenbezeichnungen auf etwas Konkretes in der Welt. Genus ist als Baustein der Grammatik dagegen etwas Abstraktes und nur ein Bedeutungsanteil. Mehr noch: Es ist eine Eigenschaft von Substantiven und allen dazugehörigen Wortarten, die wir immer mitdenken, wenn wir sie benutzen. Es fließt ganz von selbst in unsere Sprachverwendung und unser Verstehen ein. Das macht es viel schwerer, sprachplanerisch mit grammatikalischen Kategorien zu arbeiten, denn es ist quasi unterbewusst. Die Lösung, die du vorschlägst, ist also gar keine einfachere, sondern eigentlich mit noch mehr individueller Mühe verbunden, weil es überhaupt keine gegenständliche Stütze gibt, die einen beim Sprechen zum Umdenken anhält. Als Sinnbild: Ich könnte einen gebrochenen Arm auch gesund werden lassen, indem ich ihn selbstständig absolut ruhig halte – die Position für die schnellstmögliche Knochenheilung ist ja eine, die mein Arm von sich aus schon einnehmen kann. Aber ohne den unterstützenden Gips werde ich das vermutlich nicht kontinuierlich genug machen, um den gewünschten Effekt zu erzielen.
Ich gebe dir recht, dass durch Pusch und viele weitere Feminist*innen ein Fokus auf das Genus gelegt wird, der einen solchen Prozess vielleicht erleichtern könnte. Aber das Ergebnis ihrer Arbeit ist nicht wirklich eine Uminterpretation in dem Sinne, wie du sie vorschlägst. Sie haben die Bedeutung von Wörtern wie Doktoren oder Köche nicht aktiv dahingehend verändert, dass man dabei plötzlich nur noch an Männer denkt. Was sie getan haben, ist, auf die schon bestehende Ungleichheit hinzuweisen, die sich durch die Doppelbedeutung der Maskulina ergab: generisch für alle und spezifisch für Männer. Dass es jetzt zu einer Bedeutungsverschiebung kommt, passiert doch gerade deshalb, weil es jetzt neue Formen gibt, die wirklich generisch sind. Die generische Funktion wird auf neue sprachliche Formen übertragen und hinterlässt die Maskulina spezifisch. Das Umhören passiert im Nachgang zum Umsprechen.
„Der Widerstand gegen die jetzige Form des Genderns ist symptomatisch für eine zugrundeliegende Trägheit, die Rechte von Frauen und nicht-binären Menschen als bedeutsam zu erachten.“ – J.A.R.
Vielleicht ist jetzt auch klarer, warum ich es wichtig finde, die Inklusion an den einzelnen Wörtern sichtbar zu machen. Du sprichst davon, die Gleichberechtigung in der Sache sichtbar zu machen und die Sprache kompatibel zu halten – und ich muss mich fragen, wie das gewährleistet werden kann angesichts der sprachlichen und auch außersprachlichen Tatsachen. Natürlich wäre es großartig, könnten wir einfach an einer semantischen Stellschraube drehen und auf einmal an alle gleich stark gendergerecht denken. Du sagtest ja eingangs, der kognitive status quo, den Pusch und andere anmahnen, spiele weniger eine Rolle als das kollektive Wollen. Aber wie stellst du dir das konkret vor? Wo genau ist dann die Signalwirkung, wo der Impuls, der dieses Wollen auch zu mentalen Taten werden lässt? Möglicherweise interpretieren wir die außersprachlichen Gegebenheiten hier auch unterschiedlich, aber für mich ist der Widerstand gegen die jetzige Form des Genderns nicht ausschließlich ein Problem mit der gewählten sprachlichen Form, sondern auch symptomatisch für eine zugrundeliegende Trägheit, die Rechte von Frauen und nicht-binären Menschen als bedeutsam zu erachten. Und da hilft ein zugegeben sehr schönes Gedankenexperiment, das auf einer bequemen, individualisierten Beseitigung der Diskriminierung fußt, nicht wirklich weiter.
Martin Krohs: Wir kommen gerade, denke ich, dem Dissens näher, der uns trennt. Ganz konkret kann man ihn hieran festmachen: Du sagst, Pusch und andere hätten die Bedeutung von Wörtern wie Doktoren oder Köche nicht aktiv so verändert, dass man plötzlich nur noch oder vor allem an Männer denkt. Doch, genau das haben sie getan! Sie haben eben nicht nur auf eine bestehende Ungleichheit hingewiesen, sondern sie haben das, worin man eine Ungleichheit sehen konnte – worin man aber auch eine Technik der Gleichheit hätte sehen können – als eine de facto existierende Ungleichheit ausgegeben. Ich überspitze das ein bisschen, ich weiß, aber gestatte mir das, damit mein Punkt ganz klar wird.
In der Zeit vor Pusch – vereinfacht gesagt – war es eine Selbstverständlichkeit, dass Doktoren oder Köche Personen jeglichen Geschlechts sein können. Niemand wäre überhaupt etwas anderes in den Sinn gekommen. Oder nimm die Anrede in einem geschriebenen Text: liebe Leser. Oder sogar: lieber Leser. Es war einfach klar, dass diese Formen in diesem Kontext generisch sind.
Und nun kommt Pusch und sagt: Ha! Das ist aber doch eine Maskulin-Endung! Und deshalb sind das Formen, die nur Männer bezeichnen können, und die Frauen bleiben außen vor!
Und weil sich das in eine absolut notwendige, absolut begrüßenswerte soziale, emanzipatorische Agenda einschreibt, für die man sinnvollerweise empfänglich ist, sagt man: Ah ja klar, natürlich! Gut dass das mal jemand auffällt, das ist ja fürchterlich
„Nicht der Gebrauch des einzelnen Worts darf politisch sein. Was politisch ist, das sind Argumente, Debatten, Gesetze – die Rede ist politisch.“ – M.K.
Und es geschieht genau das, wovon du sagst, dass es nicht geht: Der Teil der Sprachgemeinschaft, der sich Puschs Verstehensweise anschließt, beginnt, eine ganze funktionale Kategorie, nämlich das Genus, umzuhören. Genus, das zuvor etwas Hybrides, schwer Definierbares war, ein innersprachlicher Stifter von
Was uns beide trennt in dieser Diskussion, das ist, würde ich sagen, eigentlich viel mehr als nur unsere unterschiedliche Modellbildung zum Sprachwandel. Uns trennt auch eine ganz unterschiedliche Konzeption des Verhältnisses zwischen Sprache und Wirklichkeit überhaupt, oder ich sage mal etwas mutiger: zwischen Sprache und Politik. Für dich ist Sprache Politik. Du willst mit sprachlichen Mitteln etwas Politisches bewirken. Ich will im Gegenteil die Sprache von Politik freihalten. Ich meine, Sprache ist dafür da – außer, sagen wir mal, dass man in ihr auch Gedichte schreiben kann – Politik zu verhandeln. Ja, natürlich müssen wir politisch sprechen! Aber nicht der Gebrauch des einzelnen Worts darf politisch sein, erst recht nicht der einer einzigen Wortendung. Was politisch ist, das sind Aussagen, Argumente, Appelle, Debatten, Verfügungen, Gesetze – die Rede ist politisch, der Text ist politisch! Wenn wir das einzelne Wort politisch machen, dann zerstören wir sogar die politischen Fähigkeiten der Sprache. Denn dann haben wir genau das, was derzeit passiert: Dass, noch bevor die Aussage überhaupt gemacht wird, das politische Signal bereits gegeben ist. Die politischen Kräfte drehen leer und auf der Stelle, anstatt aufeinander einzuwirken. Das hilft auch der Sache der Minderheiten nicht.
Julian Andrej Rott: Ich denke, mit dieser Beobachtung zu unseren verschiedenen Perspektiven liegst du richtig. In deiner Darstellung wurde, wenn ich sie jetzt auch nochmal überspitzt zusammenfasse, die Sprache erst politisiert, als die feministische Linguistik begann, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Als hätten wir zuvor eher neutrale Begriffe gehabt, die unabhängig vom sozioökonomischen Kampf um Gleichberechtigung der Frauen in einer sprachlichen Sphäre existierten und dann bedauerlicherweise vom Sog der Debatte erfasst wurden. Ich sehe es eher so, dass Sprache als ein großes, identitätsstiftendes Merkmal von Gesellschaften immer schon ganz unmittelbar mit den realen Gegebenheiten ihrer Sprecher*innenschaft verbunden war. Sprache ist von Politik nicht freizuhalten: Vor Beginn der Debatte wurde eine Anrede wie lieber Leser sicherlich als normal empfunden, da gehe ich mit. Aber normal heißt nicht neutral. Normal heißt gemäß der üblichen Verhältnisse – und die waren unverkennbar sexistisch, ich denke, da sind wir uns einig.
„Sprache als großes, identitätsstiftendes Merkmal von Gesellschaften war immer schon ganz unmittelbar mit den realen Gegebenheiten ihrer Sprecher*innenschaft verbunden.“ – J.A.R.
Natürlich ist Sprechen an sich unter so einer Sichtweise ein politischer Akt. Ich sehe absolut die Schwierigkeit dabei, die du auch aufzeigst. Wenn die Grundbausteine des Diskurses an sich schon zum Streitpunkt werden, dann kommt man kaum mehr dazu, über die Sache an sich zu sprechen. Im Unterschied zu dir aber denke ich, dass das ein guter, chancenreicher Zustand ist und auch kein ewigwährender. Wir schauen uns als Gesellschaft gerade unser wichtigstes politisches Werkzeug an – die Sprache. Dabei wird klar, dass seine Bauart nicht mehr auf die Mechanismen passen, mit denen wir unsere Lebensrealität gestalten wollen. Das Werkzeug ist veraltet, und wir befinden uns jetzt in einer Phase der Erneuerung. Diese verkompliziert sich dadurch, dass wir bei laufendem Betrieb renovieren müssen, und diesen Druck spürt man gerade sehr deutlich. Aber ich persönlich halte viel lieber eine etwas wackelige Phase des Umbruchs aus, als mich damit zu begnügen, Altes neu anzustreichen.
Martin Krohs/Julian Andrej Rott: Wir könnten diesen Disput sicher lange fortführen. Und zwar entlang beider Linien, die er jetzt eingeschlagen hat, im Anschluss an die Frage nach der Aussagekraft empirischer Untersuchungen für die Problematik des Genderns. Wir könnten das Verhältnis von Sprache und Politik weiter diskutieren, und M.K. würde auf die letzte Replik von J.A.R entgegnen: „Dir ist also die Sprach-Politik wichtiger als die praktische, reale Politik, die Politik-Politik?“ Worauf J.A.R. antworten würde: „Nein, aber ich sehe diese beiden Dinge als untrennbar verbunden und die queerfeministische Spracharbeit als wichtige Antriebskraft.“ – Und ebenso könnten wir die Fragen von Wortgebrauch und Sprachwandel weiter fortführen. Sollten wir die Sprache geschlechtlich präziser machen oder im Gegenteil geschlechtlich unpräziser? Welche Wortformen würden jeweils zur Verfügung stehen, welche Möglichkeiten würden sie bieten, welche Probleme würden sie aufwerfen?
Klar ist aber jetzt bereits, dass unsere Positionen und Herangehensweisen, ja sogar unsere Grundkonzeptionen davon, was Sprache ist und was sie soll, miteinander so gut wie unvereinbar sind. Wir vermuten, dass das in der Sprachgemeinschaft als Ganzes nicht viel anders aussieht: Das Trennende reicht weit über einzelne grammatische Streitfälle hinaus.
Trotz alledem sind wir beiden Diskutant*innen/Diskutanten uns in manchen Dingen überraschend einig. Wir sind beide überzeugt, dass wir uns derzeit in einem überaus spannenden, interessanten, vielversprechenden Moment der (Sprach-)Geschichte befinden. Es liegen die verschiedensten Optionen auf dem Tisch – manche werden bereits aktiv praktiziert, andere scheinen (zunächst?) in den Hintergrund zu treten, mit wieder anderen wird in kleinen Sprecher-/Sprecher*innen-Gruppen ausgiebig experimentiert, abseits von der großen Öffentlichkeit. Und auch wer das Potenzial zu mehr Gerechtigkeit im Bisherigen findet, treibt diesen Prozess unweigerlich mit voran. Denn in der Tat: Unser Reden wird bei laufendem Betrieb verändert, auf der Suche nach der tauglichsten Art und Weise, gut miteinander sprachlich umzugehen. Wieviel Wandel lassen wir stattfinden, wie schnell soll er gehen, wohin wird er führen?
Julian Andrej Rott ist Linguist*in mit Schwerpunkt Typologie und Morphologie. Weitere Forschungsinteressen sind Sprachverarbeitung, Sprachwandel, extralinguistische Spracheinflüsse und Phänomene an der Schnittstelle zwischen Wortform und Bedeutung.
Martin Krohs ist Philosoph, seine Fachgebiete sind Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie und politische Philosophie.