1. KRISE
Liberale Demokratie
Krisen gehören zur Demokratie, sagt die Politikwissenschaftlerin Franziska Martinsen. In pluralen Gesellschaften treffen unterschiedlichste Meinungen und Lebensentwürfe aufeinander. Streit ist also vorprogrammiert – und das ist auch gut so. Doch derzeit scheint die Krise tiefer zu reichen. Es geht nicht länger nur um einzelne Fragen innerhalb der demokratischen Ordnung, sondern immer öfter um die demokratische Ordnung selbst. Rechtspopulistische und -radikale Bewegungen sägen innerhalb und außerhalb der Parlamente an sicher geglaubten Grundpfeilern von Demokratie und Rechtsstaat. Von Trump zu Milei, von Le Pen zur AfD. Wie lässt sich dieser Rechtsruck erklären? Der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde führt den Aufstieg von Populist*innen vor allem auf eine Entpolitisierung des öffentlichen Diskurses zurück. Ihm zufolge hat sich in den westlichen Demokratien innerhalb der vergangenen Jahrzehnte ein undemokratischer Liberalismus ausgebildet. Zwar seien die Grundpfeiler einer liberalen Gesellschaft erhalten geblieben, die demokratische Willensbildung allerdings ausgehöhlt worden. Mudde kritisiert, dass die europäischen Bevölkerungen in den vergangenen Jahrzehnten bei einer Reihe von wegweisenden politischen Entscheidungen nicht genug eingebunden worden seien – beispielsweise in Fragen der Migration oder der Europäischen Integration. Nun folge die Antwort auf diese Entwicklungen in Form einer „illiberalen Demokratie“. Populistische Parteien zeichnen das Bild eines homogenen Volkes, dessen allgemeinen Willen sie vorgeben, gegenüber einer korrupten Elite zu vertreten. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Minderheitenrechte sollen gegenüber diesem vermeintlich echten Volkswillen zurücktreten – formal bleibt die Demokratie so erhalten, jedoch ohne liberale Grundrechte. Während Mudde vor allem die institutionalisierte Politik in den Blick nimmt, untersuchen die Politikwissenschaftler Anton Jäger und Arthur Borriello den Aufstieg des Populismus in einem breiteren gesellschaftlichen Wandel – dem Niedergang der vermittelnden Institutionen. Darunter verstehen sie nicht nur journalistische Medien, sondern vor allem Parteien, Vereine, Gewerkschaften, Kirchen oder Sparkassen. Diese Institutionen, so die These, prägten und dominierten das soziale Leben in den westlichen Nachkriegsgesellschaften. Sie stifteten Identität und Zusammenhalt, vertraten die Interessen ihrer Mitglieder nach außen. Wer man war, bestimmte sich in dieser „geordneten Moderne“ durch Mitgliedschaften. Als Vermittlerinnen standen die Institutionen zwischen Bürger und Staat und regulierten deren Beziehungen. Durch ihren Niedergang ab den 1970er Jahren sei jedoch eine klaffende Lücke zwischen dem Staat und seinen Bürgern entstanden. Genau hier setzt für Jäger und Borriello die politische Logik des Populismus an: In einem gesellschaftlichen Klima, in dem die vermittelnden Institutionen wegfallen, präsentieren sich Populist*innen als vermeintlich unmittelbare Repräsentant*innen des „Volkes“. Jäger und Borriello zufolge versuchen populistische Bewegungen also nicht, verloren gegangene Institutionen und Mechanismen wiederherzustellen – sondern im Gegenteil: den Bruch zu vergrößern und für ihre Zwecke auszunutzen.
Kapitalismus und Einsamkeit
Auch für den Soziologen Wilhelm Heitmeyer spielt die Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts eine zentrale Rolle bei der Hinwendung zu rechtsradikalen Ideologien. Die Ursache für „soziale Desintegration“ sieht er primär im wachsenden Einfluss eines „autoritären Kapitalismus“. Darunter versteht er eine seit den 1980er Jahren fortschreitende Privatisierung und Deregulierung, im Zuge derer der öffentliche Raum zunehmend durch privatwirtschaftliche Akteure regiert wird. Je mehr aber der soziale Raum nicht mehr nach Gemeinwohl, sondern wirtschaftlichen Einzelinteressen gestaltet werde, desto weniger können sich Einzelpersonen und soziale Gruppen ihres sozioökonomischen Status’ und ihres Selbstwerts sicher sein. Es bleibe ein permanentes Unsicherheitsgefühl und die Angst vor dem sozialen Abstieg in immer größeren Teilen der Gesellschaft, weshalb der Soziologe Oliver Nachtwey in diesem Zusammenhang auch von einer „Abstiegsgesellschaft“ spricht. Rechte Akteure, deren Ideologie Heitmeyer als „autoritären Nationalradikalismus“ bezeichnet, machen sich dieses Unsicherheitsgefühl zunutze. Zum einen schaffen sie eine Basis, auf die sich die in ihrem Status bedrohten Gruppen zurückziehen können (die Nationalität), zum anderen locken sie mit dem Versprechen, einem gefühlten Kontrollverlust durch Ordnung und starke Führung wieder Herr werden zu können. Exemplarisch findet sich eine derartige Rhetorik etwa bei Alexander Gauland, der verkündet, dass sich die AfD und ihre Anhänger*innen „unser Land und unser Volk zurückholen [werden]“.
Überlegungen über den Zusammenhang von Kapitalismus, Einsamkeit und Autoritarismus sind nicht neu. Bereits Hannah Arendt hatte in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft den Zusammenbruch von Beziehungen und die zunehmende soziale Isolation in der modernen Industriegesellschaft als einen grundlegenden Faktor für die Entstehung totalitärer Bewegungen charakterisiert. Masseneinsamkeit, argumentiert sie, kann zu einer ernstzunehmenden Bedrohung für die Demokratie werden. Derartige Befunde lassen sich empirisch durchaus nachweisen. So konnte etwa eine Studie des Progressiven Zentrums im Jahr 2023 einen Zusammenhang zwischen Einsamkeitserfahrungen von Jugendlichen und autoritären, antidemokratischen Einstellungen aufzeigen.
Kognitive Faktoren
Aushöhlung des demokratischen Diskurses. Niedergang von gesellschaftlichen Institutionen und Sicherungssystemen. Fortschreitende Privatisierung von immer mehr Lebensbereichen und daraus resultierende Verunsicherung und Vereinsamung. Dies sind die Faktoren, die führende Stimmen aus Soziologie und Politikwissenschaften derzeit als sozioökonomische Triebkräfte einer zunehmenden politischen Radikalisierung nach rechts ausmachen. Doch liegen die Ursachen für politischen Extremismus vor allem in gesellschaftlichen Strukturen – oder gibt es so etwas wie eine persönliche Prädisposition?
Die psychologische Dimension rechten Denkens wird in den Sozialwissenschaften seit den 1940er Jahren diskutiert. Im politischen Exil in den USA wollten emigrierte Psycholog*innen und Soziolog*innen aus Deutschland und Österreich damals verstehen, wie sich Millionen von Menschen an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligen konnten. Wer wird Faschist und warum? Die Erklärungsansätze in der Psychologie lassen sich dabei grob in zwei Schulen unterteilen. Die eine Perspektive nimmt eher kognitive Strukturen in den Blick, die andere eher Emotionen und Motivationen. Die kognitive Schule geht auf Else Frenkel-Brunswik zurück, neben Theodor W. Adorno eine der Ko-Autor*innen der berühmten Studie über die „Autoritäre Persönlichkeit“. Sie zeigte im Jahr 1949: Kinder, die besonders viele Vorurteile gegenüber anderen hegten, legten in Rechenaufgaben und Wahrnehmungstests auch eine geringere kognitive Flexibilität an den Tag. Ihr Denken schien allgemein starrer, unbeweglicher. Heute knüpft die Psychologin Leor Zmigrod an Frenkel-Brunswiks Arbeiten an. Gemeinsam mit Kollegen konnte sie 2019 experimentell zeigen, dass kognitive Inflexibilität und extremistisch-nationalistische Einstellungen statistisch zusammenhängen: Menschen, die in neuropsychologischen Tests schlechter abschnitten, gaben in Fragebögen deutlich häufiger einen gewaltbereiten Nationalismus zu erkennen.
Emotionen und Motivationen
Hinsichtlich der emotionalen und motivationalen Faktoren von Radikalisierungsprozessen legen Psycholog*innen das Augenmerk auf verschiedene psychische Grundbedürfnisse von Menschen. Der Münsteraner Psychologe Mitja Back etwa versteht die Hinwendung zu rechten Positionen als Reaktion auf ein psychisches Grundbedürfnis nach Sicherheit, das bei einigen Menschen stärker ausgeprägt sei und angesichts drastischer Veränderungen durch Globalisierungsprozesse zunehmend anschlage. Für den amerikanischen Psychologen Arie Kruglanski hingegen ist ein überzogenes Streben nach Bedeutung (quest for significance) einer der zentralen Triebkräfte für Radikalisierung. Ihm zufolge sind Menschen, die in ihrem Leben einen Bedeutungsverlust erlitten haben oder zu erleiden fürchten, besonders anfällig für Ideologien, die klare Orientierung bieten, die Welt ordnen und strukturieren. Ideologien also, die das bedienen, was Kruglanski als need for closure bezeichnet, also einen Ausschluss von Ambivalenz und Vieldeutigkeit, beispielsweise durch klare Einteilungen in Gut und Böse oder Freund und Feind.
Besonders geeignet seien hierfür kollektivistische Glaubenssysteme, etwa ein radikaler Nationalismus. Solche Glaubenssysteme tilgen aber nicht nur Ambivalenzen, sondern befriedigen auch den need for significance. Durch die Identifizierung mit der (nationalen) Gruppe stabilisiert das Individuum die eigene Bedeutung. Kruglanski und sein Team unterstreichen jedoch, dass es sich um keinen automatisierten Prozess handelt. Als einer der wichtigsten Faktoren, ob eine Krise der persönlichen Bedeutung letztlich zu einer Hinwendung zu radikalen Ideologen führt, identifizieren sie das soziale Netz eines Menschen. Menschen können sich nicht nur im Kampf gegen vermeintliche Feinde bedeutsam fühlen, sondern auch indem sie sich für andere engagieren, im Ortsverein, in der Kirche oder bei der Tafel. Sowohl kognitive als auch emotional-motivationale Ansätze scheinen mit der soziologischen Forschung kompatibel. Es sind gerade Grundbedürfnisse wie Sicherheit und Bedeutung, die in gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften unter Druck geraten, während rapide Wandlungsprozesse eine hohe persönliche Flexibilität erfordern und sinn- und gemeinschaftsstiftende Institutionen zunehmend erodieren. Es gilt jedoch festzuhalten, dass Radikalisierungsprozesse weder auf gesellschaftlicher noch auf individueller Ebene Naturgesetzen folgen. Instabile politische Systeme bieten ebenso einen Nährboden für Radikalisierung wie soziale Abstiegsängste, Persönlichkeitsstörungen oder materielle Armut. Aber: Nicht jeder Mensch, der sich einsam und bedroht fühlt oder am Rande des Existenzminimums lebt, wird radikal. Radikalisierung, darauf weist Susanne Pickel hin, ist immer auch das Resultat individueller Entscheidungen.
2. DEMOKRATIE
Aufstieg der AfD
Rund zehn Jahre nach ihrer Gründung ist die AfD einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung zufolge „radikalisiert und etabliert“. Seit 2013 konnte die Partei ihren Stimmenanteil bei Land- und Bundestagswahlen sowie auf europäischer Ebene fast kontinuierlich ausbauen. Die Etablierung der Partei in den Parlamenten hat allerdings nicht zu ihrer Mäßigung – sondern, im Gegenteil, zu ihrer beinahe ungebremsten Radikalisierung geführt. In den parteiinternen Machtkämpfen der vergangenen Jahre konnte das rechtsextreme Lager seinen Einfluss immer weiter ausbauen und scheint heute das Ruder in der Partei fest in Händen zu halten. Anders als die Rechtsextremen alter Schule, die ihr antidemokratisches, autoritäres bis faschistisches Staatsverständnis offen zur Schau stellen, präsentieren sich die AfD und andere neurechte Parteien zuweilen als radikaldemokratische Kräfte – als echte Vertreterinnen der „Volkssouveränität“. Die Brenner-Studie weist darauf hin, dass sich im Parteiprogramm der AfD sogar die Forderung nach einer Stärkung der direkten Demokratie findet. Doch dabei handelt es sich nur auf den ersten Blick um eine echte demokratische Programmatik. Denn: Forderungen nach einer „direkten Demokratie“ verbinden sich in der Ideologie der Rechtspopulisten mit Vorstellungen eines homogenen Volkes mit einem eindeutigen Willen. Wenn es aber nur einen einzigen klaren „Volkswillen“ gibt, dann braucht es auch keinen demokratischen Streit mehr. Anders gesagt: Direkte Demokratie bedeutet in der Logik des Rechtspopulismus, dass die Exekutive den angeblichen Volkswillen nur noch umsetzen muss – ungestört von Gerichten, Parlamenten und zivilgesellschaftlichem Widerspruch.
Längst ist die AfD so zum Fall für den Verfassungsschutz geworden. Ein Bekenntnis zur Demokratie allein reicht nicht aus, damit eine Partei verfassungskonform ist. Sie muss auch Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde achten – unverzichtbare Bestandteile der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGO). Aus Sicht des Verfassungsschutzes liegt der wesentliche Kern der rechtsextremistischen Ideologie in der Vorstellung, dass „die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation über den tatsächlichen Wert eines Menschen entscheide“. Im aktuellen Bericht listet der Verfassungsschutz zahlreiche rassistische, antimuslimische und antisemitische Äußerungen der Partei auf. Derartige Positionen sind vom Grundgesetz nicht gedeckt – denn sie verletzen die in Artikel 1 festgeschriebene Menschenwürde.
Thüringen
Die wachsenden Wahlerfolge der AfD werfen die Frage auf, wie die Partei agieren könnte, sollte es ihr gelingen, eines Tages in die Regierungsposition zu gelangen. Mit Blick auf die Landtagswahlen in Thüringen im Herbst 2024 ist dies ein durchaus ernstzunehmendes Szenario, mit dem sich das Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs auf rechts- und politikwissenschaftlicher Ebene auseinandersetzt. Hannah Beck und Juliana Talg unterstreichen, dass autoritär-populistische Parteien in Regierungsposition oft formal-legalistisch vorgehen. Sie nutzen die bestehenden Normen und Gesetze, um die Demokratie von innen heraus auszuhöhlen. Sie schaffen die demokratischen Institutionen nicht ab, bauen sie aber so um, dass sie ihren eigenen Zwecken dienen, während die Rechte von politischen Gegnern eingeschränkt werden. Als besonders sensible Einfallstore auf Landesebene sehen sie Sicherheitsbehörden wie die Landespolizei und das Landesamt für Verfassungsschutz, die eine AfD-Regierung umbauen könnte, um gegen politische Gegner vorzugehen. Auch die Kultur- und Bildungspolitik ist ein zentraler Bereich. Eine autoritär-populistische Landesregierung könnte hier zum Beispiel den Sexualkunde-Unterricht streichen oder den Lehrplan im Geschichtsunterricht ändern. Björn Höcke, Landesvorsitzender der AfD in Thüringen, hat bereits angekündigt, dass er eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad möchte“. Die Thüringer AfD hat zudem bereits mehrfach öffentlich damit gedroht, im Falle einer Regierungsbeteiligung gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorzugehen. Tatsächlich kann in Thüringen der Ministerpräsident den Rundfunkstaatsvertrag ohne Abstimmung mit dem Landtag kündigen. Der Mitteldeutsche Rundfunk stünde in einem solchen Szenario in Thüringen auf einen Schlag ohne Geld da. Szenarien, wie ein Deutschland aussehen könnte, in dem die AfD auf Bundesebene die Geschicke lenkt, hat das ARD-Magazin Monitor entworfen.
In den Parlamenten
Doch auch ohne direkte Regierungsbeteiligung haben rechte Parteien heute bereits einen Einfluss auf politische Entscheidungen, allen voran in Fragen der Migration. Dies zeigen Daten der Politikwissenschaftlerin Meredith Winn. Exemplarisch lässt sich die Situation etwa anhand der politischen Lage in Schweden aufzeigen. Dort hatten die rechtspopulistischen „Schwedendemokraten“ bei den Parlamentswahlen 2014 deutlich an Stimmen gewonnen (von 5,7 auf 12,9 Prozent) – und legten angesichts steigender Geflüchtetenzahlen nach 2015 in Umfragen weiter zu. Die regierende Koalition aus Grünen und Sozialdemokrat*innen reagierte unter anderem, indem sie das Asylrecht massiv verschärfte und damit eine Politik betrieb, die die Schwedendemokraten seit Jahren gefordert hatten. Ein solch indirekter Einfluss rechtspopulistischer Opposition auf die Regierungspraxis ließ sich in der jüngeren Vergangenheit auch in Deutschland beobachten – im Vorfeld der Landtagswahlen 2024 heizt der drohende Wahlerfolg der AfD die Asyldebatte merklich an. Auch zehn Jahre nach ihrer Gründung scheinen sich die demokratischen Parteien im Umgang mit der AfD weiter schwer zu tun. Eine einheitliche Strategie, wie sich die in Teilen rechtsextreme Partei erfolgreich kontern lässt, hat sich nicht herausgebildet, sagt die Politikwissenschaftlerin Anna-Sophie Heinze. Im Gegenteil: die „Brandmauer“ droht immer weiter zu zerfallen. In den Landtagen kam es immer wieder zu punktuellen Zusammenarbeiten. In Sachsen-Anhalt stimmte beispielsweise 2017 die CDU als Teil der Regierungskoalition gemeinsam mit der oppositionellen AfD für eine Enquete-Kommission zur Untersuchung von Linksextremismus. In Thüringen ließ sich der FDP-Landesvorsitzende Thomas Kemmerich 2020 sogar mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen. Und auch nach seinem anschließenden Rücktritt kam es in Thüringen weiter zu Kooperationen mit der AfD. So haben CDU und FDP im Februar 2023 gemeinsam mit der AfD die rot-rot-grüne Minderheitsregierung für ein neues Spielhallengesetz überstimmt. In Hinblick auf die aktuelle Forschungslage plädiert Heinze dafür, die AfD formal strikt auszugrenzen und keine gemeinsamen Anträge oder Gesetzentwürfe einzubringen. Demokratische Parteien sollten sich von dem Irrglauben lösen, dass die Übernahme von AfD-Positionen Wähler*innen zurückholt – stattdessen zeige die Forschung, dass durch Übernahmestrategien vor allem radikale Positionen und Frames legitimiert und normalisiert werden. Um Wähler*innen zu gewinnen, macht Heinze deutlich, sollten Parteien vielmehr ihr eigenes Profil mit positiv formulierten Angeboten stärken. Ähnlich plädiert auch Cas Mudde für eine Repolitisierung des öffentlichen Diskurses.
Friedlicher Widerstand
Während es den Angeboten der institutionalisierten Parteien vielen Beobachter*innen zufolge immer mehr an politischem Biss fehlt, wächst der Protest außerhalb der Parlamente. Nach Daten des Nonviolent and Violent Campaigns and Outcomes (NAVCO) Projekts der Harvard University hat kein anderes Jahrzehnt seit 1900 eine ansatzweise vergleichbare Anzahl an friedlichen Protestbewegungen gesehen wie die 2010er Jahre. Die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth interpretiert diese Zahlen gleichzeitig als Zeichen politischen Fortschritts wie Niedergangs: Einerseits scheinen immer mehr Menschen die Vorteile friedlichen Widerstands als Mittel politischen Engagements zu erkennen. Andererseits scheinen immer mehr Menschen die Notwendigkeit zu sehen, gegen ihre Regierung auf die Straße zu gehen – und Institutionen immer weniger in der Lage, gesellschaftliche Konflikte und Ungerechtigkeiten erfolgreich anzugehen. Einen der Hauptgründe für das „Jahrzehnt des Protests“ sieht Chenoweth im Erstarken des Autoritarismus weltweit – als Beispiele nennt sie Ägypten, die Türkei, Ungarn, Polen, Brasilien und die Vereinigten Staaten.
Über die vergangenen 120 Jahre kann Chenoweth zeigen, dass gewaltlose Bewegungen statistisch gesehen rund doppelt so erfolgreich waren wie gewaltsamer Protest. Doch erstaunlicherweise scheint ihr Erfolg zu schwinden. Friedliche Bewegungen sind auch seit den 2010er Jahren zwar immer noch deutlich effektiver als gewaltsame Aktionen – ihre Effektivität ist gegenüber den friedlichen Bewegungen der Jahre 1960-2000 allerdings deutlich zurückgegangen. Chenoweth spricht in diesem Zusammenhang von einem „besorgniserregenden Paradox“: Just in dem Moment, in dem ziviler Widerstand zum politischen Mittel der Wahl werde, werde gewaltloser Protest – zumindest unmittelbar – immer ineffektiver. Die Gründe für diese Entwicklungen sieht sie vor allem in den Bewegungen selbst. Chenoweth zufolge setzen sie sich zu früh und unorganisiert ins Rampenlicht – ohne wirkliches politisches Kapital in Form von gesamtgesellschaftlicher Breite, politischer Vernetzung und ökonomischen Druckmaßnahmen. Auch lässt sich eine zunehmende Gewalt an den Rändern beobachten. Was Machthaber*innen wirklich fürchten, sagt die Politikwissenschaftlerin, sei die massenhafte Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten, die durch unerschütterlich friedlichen Protest die Aura staatlicher Unverwundbarkeit infrage stellen.
Übrigens: Neben dem NAVCO-Projekt bietet der Global Protest Tracker des Carnegie Endowment for International Peace die Möglichkeit, politische Proteste rund um den Globus zu verfolgen.
Radikaler Protest
In der Frage, welche Rolle Protest in einer Demokratie zukommt – und wie weit dieser Protest gehen darf –, hat sich der Sozialphilosoph Jürgen Habermas bereits in den 1980er Jahren prominent zu Wort gemeldet. Habermas unterstreicht die Legitimität und Notwendigkeit von „zivilem Ungehorsam“ – sprich öffentlichem, moralisch begründetem Protest, bei dem zwar auf Gewalt verzichtet wird, jedoch wissentlich einzelne Gesetze übertreten werden. Da eine unmoralische, missbräuchliche Politik in liberalen Demokratien rein institutionell nicht verhindert werden kann, braucht es für Habermas urteilsfähige Bürger*innen, die im Ernstfall dazu bereit sind, „aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich zu handeln.“ Habermas stellt aber nicht einfach individuelle Überzeugungen über demokratische Mehrheitsentscheidungen. Es geht nicht darum, politische Entscheidungen mit Gewalt durchzusetzen. Einzig legitimes Ziel von zivilem Ungehorsam ist für Habermas, Aufmerksamkeit zu generieren und eine öffentliche Debatte anzustoßen. Aus diesem Grund müssen die Protestierenden für Habermas auch bereit sein, für die rechtlichen Folgen ihrer Taten einzustehen. Sie dürfen sich nicht über die Rechtsordnung stellen, sondern lediglich versuchen, durch wohltemperierte Grenzübertretungen auf diese Ordnung einzuwirken.
Weiter in seinen Forderungen geht Oliver Marchart, der als einer der prominentesten deutschsprachigen Vertreter der radikalen Demokratietheorie gilt. Er argumentiert mit Rückgriff auf marxistische Theorien, dass die institutionalisierten Regeln der Konfliktbewältigung in liberalen Demokratien selbst von bestimmten Machtverhältnissen geprägt sind. Vereinfachend ließe sich sagen, dass der liberale Rechtsstaat entgegen seinem Anspruch nicht alle Menschen gleich behandelt, sondern Angehörige herrschender Klassen systematisch privilegiert. Dies macht es für Marchart notwendig, dass demokratischer Protest in gewissen Situationen die Regeln des Spiels bricht. Marchart spricht sich dafür aus, dass in einem „radikaldemokratischen Kampf für Befreiung und Demokratisierung“ die „Legitimität vieler hegemonialer Spielregeln“ infrage gestellt werden könne und unter Umständen sogar müsse. Demokratisch sind radikale Formen des Protests und Widerstands für Marchart dann, wenn sie darauf abzielen, den Horizont von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für und auf alle Menschen zu erweitern. Als Beispiel führt er etwa die Abschaffung der Sklaverei in den USA an, die nicht innerhalb des demokratisch institutionalisierten Diskurses, sondern in einem Bürgerkrieg gelungen sei.
Mäßigung
Andere Stimmen, etwa der Hamburger Publizist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma, plädieren in gegenwärtigen Demokratiegefährdungsdiskursen für Mäßigung. Im Zentrum der demokratischen Grundordnung stünden, so argumentiert Reemtsma mit der politischen Theoretikerin Judith Shklar, nicht so sehr Ideen der Diversität oder persönlichen Entfaltung als vielmehr der „einfache Gedanke, dass wir unendlich viel gewonnen haben, wenn wir uns und einander erfolgreich vor dem Schlimmsten schützen können.“ Dass wir uns gegenseitig nicht das Schlimmste antun – also etwa Gewalt oder Folter –, werde in modernen Demokratien durch verschiedene Einrichtungen und Prozesse sicherzustellen versucht. Hierzu zählen unter anderem garantierte Grundrechte für jede*n , eine unabhängige Rechtsprechung, freie Medien und ein System der „checks and balances“, das dafür sorgt, dass sich die politischen Institutionen „einigermaßen selbst regulieren“. Wird nun von der Verteidigung der Demokratie gesprochen, dann kann es für Reemtsma nur darum gehen, diesen Kern zu schützen. Anders ausgedrückt: Nur dort, wo wir als demokratische Gesellschaft Gefahr laufen, uns und einander nicht mehr erfolgreich vor dem Schlimmsten schützen zu können, ist die Demokratie wirklich bedroht. Und nur dort sollten diejenigen, die für jene Bedrohung verantwortlich zu machen sind, für Reemtsma auch als „Feinde der Demokratie“ bezeichnet werden.
Ein ähnliches Plädoyer findet sich auch beim Politikwissenschaftler Philip Manow. Weder Reemtsma noch Manow bestreiten, dass Demokratien konstitutiv gefährdet sind – im Gegenteil. Manow erklärt die Unsicherheit zu einem Wesensmerkmal der Demokratie und Reemtsma fasst die Möglichkeit, dass sich Menschen (abermals) auch das Schlimmste antun könnten, explizit ins Auge. Beide fordern aber, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wann es angemessen ist, von einer tatsächlichen Gefährdung der demokratischen Ordnung zu sprechen.
3. RESILIENZ
Politische Bildung
Allein durch ihre Institutionen sind Demokratien allerdings ohnehin nicht lebensfähig. Freiheitliche Gesellschaften sind auf das moralische Engagement ihrer Bürger*innen angewiesen. Dabei eröffnet sich ein Dilemma, das heute vor allem mit einem Zitat des Rechtsphilosophen und Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde verdeutlicht wird: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Der freiheitliche Staat gewährt seinen Bürger*innen Freiheit, argumentiert Böckenförde, und ist darauf angewiesen, dass diese Freiheit sich „von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“ Anders gesagt: freiheitliche Demokratien leben von ihren Bürger*innen – ihrem Zusammenhalt, Ethos und Engagement. Sie können ihnen diese Werte allerdings nicht aufzwingen, ohne selbst Gefahr zu laufen, ihre Freiheitlichkeit zu verlieren. Wie allerdings lassen sich Zusammenhalt und Engagement stiften, vor allem in einer Zeit, in der der Einfluss von sinn- und gemeinschaftsstiftenden Institutionen wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Medien schwindet? Der Bildungsforscher Tim Engartner lenkt in diesem Zusammenhang den Blick auf eine Stärkung der politischen Bildung in der Schule, die „einzige obligatorische Bildungsinstanz“, die dem Staat zur Verfügung steht. Dabei plädiert er für eine starke Haltung von Lehrkräften gegenüber antidemokratischen Parteien und argumentiert, dass diese weder im Widerspruch zum staatlichen Neutralitätsgebot noch zum „Beutelsbacher Konsens“ steht. Im Gegenteil: Das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsens gebe eine kritische und kontroverse Befassung mit politischen Positionen vor. Darin komme der Gedanke zum Ausdruck, dass Politik stets einen Konflikt- und Diskurscharakter habe. Schüler*innen solle ein Bewusstsein vermittelt werden, dass Kontroverse, Meinungsverschiedenheit und Pluralität den Normalfall politischer Entscheidungsprozesse darstellen – antipluralistische Positionen, die diese Kontroverse auszuschalten suchen, könnten hingegen nicht beanspruchen, selbst gleichberechtigter Teil dieser Debatte zu sein. Auch der Verein GrundGesetzVerstehen setzt an der Schule an. Ihre Ehrenamtlichen besuchen Schulklassen, um Schüler*innen über die Bedeutung von Grundrechten in einer freiheitlichen und vielfältigen Gesellschaft aufzuklären.
Medienkompetenz
Plädoyers für politische Bildung werden in öffentlichen Debatten oft begleitet von Rufen nach einer Förderung von Medienkompetenz. Für viele Beobachter*innen haben Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter in den vergangenen zehn Jahren erheblich zur Zersetzung des öffentlichen Diskurses und zum Aufstieg von rechtspopulistischen Parteien beigetragen. In jüngster Zeit gerät zunehmend auch die Plattform TikTok in den Blick. In einer Zeit, in der journalistische Gatekeeper und andere vermittelnde Institutionen zunehmend an Einfluss verlieren, nimmt die Verbreitung von Falsch- und Desinformation rasant zu. Russische Bots überfluten den Diskurs mit Propaganda, Rechtspopulisten machen mit Lügen Stimmung. Mit Faktenchecks, Nudging und der Vermittlung von Medienkompetenz, so die Hoffnung, soll ein Gegengewicht geschaffen und ein faktenbasierter politischer Diskurs gefördert werden. In den Sozialwissenschaften werden derzeit eine Reihe von Möglichkeiten zur Bekämpfung von Falschinformation diskutiert und experimentell überprüft. Zur Disposition stehen nicht nur klassische Faktenchecks, sondern auch Warnhinweise oder eine gezielte Verlangsamung von digitalen Prozessen, die Menschen zum Innehalten und Nachdenken bringen sollen. Andere Strategien zielen auf eine Medienbildung ab – sie versuchen, Menschen die Kompetenzen an die Hand zu geben, die notwendig sind, um Nachrichten kritisch zu überprüfen und Falschinformationen besser erkennen zu können.
Grenzen der Bildung
Doch können politische Bildung und mediale Kompetenz wirklich zu einem sachbezogenen demokratischen Diskurs führen? Die Politikwissenschaftler Morgan Marietta und David C. Barker sind hier skeptisch. Sie unterstreichen, dass gesellschaftliche Konfliktlinien sich oft nicht auf einen Mangel an Fakten zurückführen lassen, sondern auf unterschiedliche Wahrnehmungen dieser Fakten. Menschen blicken ihnen zufolge in den seltensten Fällen mit dem Ziel auf die Welt, Letztere möglichst adäquat zu erfassen – sondern werden ebenso durch das Bedürfnis nach einem möglichst kohärenten Glaubenssystem und Gruppenzugehörigkeit angetrieben. Unsere Werte und unser soziales Umfeld bestimmen maßgeblich mit, wie wir unsere Welt sehen. Diesem Umstand, so die Autoren, wird man auch mit Bildung nicht begegnen können. Bildung führt ihnen zufolge nicht dazu, die Welt unvoreingenommener zu erkennen. Im Gegenteil: Gebildete besäßen in erster Linie ein besseres Rüstzeug, um Fakten mit ihren fundamentalen Wertvorstellungen in Einklang zu bringen. Aktuelle Ergebnisse aus der psychologischen Forschung können diese These unterstützen. Sie zeigen, wie hartnäckig Menschen aufgrund von grundlegenden kognitiven, sozialen und emotionalen Faktoren an ihrer Weltsicht festhalten. Derartige Faktoren können dem Psychologen John T. Jost zufolge auch erklären, warum Menschen oftmals selbst Glaubenssätze verteidigen, die ihre eigene Unterdrückung legitimieren. Warum also etwa arbeitslose oder gering bezahlte Menschen die AfD wählen – obwohl die Partei keinen Hehl aus ihrer Verachtung für sozial benachteiligte Menschen macht und Sozialleistungen massiv kürzen möchte. Oder warum sich in den USA immer mehr Menschen aus Schwarzen- und Latino-Communities Donald Trump zuwenden – trotz seiner rassistischen Rhetorik und Politik.
John T. Jost zeigt im Rahmen seiner System Justification Theory, dass psychische Bedürfnisse Menschen oftmals zu dem unbedingten Glauben drängen, dass die bestehende soziale Ordnung legitim und gerechtfertigt ist, selbst wenn sie in Wahrheit ausgebeutet werden. In der Überzeugung, dass das System und seine Institutionen legitim sind, finden Menschen existenzielle Sicherheit. Sie fühlen sich in ihren Überzeugungen, ihrem physischen Wohlbefinden und ihren persönlichen Beziehungen bestärkt. Diese Überzeugung scheint mit Beobachtungen des Soziologen Wilhelm Heitmeyer kompatibel, nach denen sich von Abstieg und Statusverlust bedrohte Menschen auf nächstliegende Sicherheiten wie die nationale Identität zurückziehen. In einer von Einsamkeit und prekärer Beschäftigung geprägten Welt fällt es ungleich schwerer, sich kritisch und dezidiert mit der politischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Was es an dieser Stelle braucht, lässt sich argumentieren, ist nicht politische Bildung, sondern soziale Politik.
Wehrhafte Demokratie
Wie können und sollen sich liberale Demokratien in Zukunft besser gegen populistische und rechtsradikale Angriffe schützen? In der öffentlichen Debatte ist oft von der wehrhaften Demokratie die Rede. Hinter dem Begriff steckt die Idee, dass die Demokratie sich aktiv gegen ihre Feinde zur Wehr setzt – also verhindert, dass Verfassungsfeinde ihre vom Grundgesetz gewährten Freiheiten dazu missbrauchen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu zerstören. Im deutschen Grundgesetz sind dafür verschiedene rechtliche Mittel vorgesehen. Im Zentrum der Diskussion steht derzeit vor allem die Möglichkeit eines Parteiverbots gegen die AfD. Ein solches könnte vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden.
Über die Frage des Parteiverbots hinaus stellt sich grundlegend die Frage nach der Macht von Verfassungsgerichten in liberalen Demokratien. Wie oben diskutiert, sehen Politikwissenschaftler wie Cas Mudde einen „undemokratischen Liberalismus“ als einen der Hauptgründe für das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen. Sie kritisieren eine zunehmende Entpolitisierung des öffentlichen Diskurses und Kompetenzverschiebung in Richtung von Verwaltungsinstitutionen. Aus einer ähnlichen Richtung argumentiert auch der Politikwissenschaftler Philip Manow. Ihm zufolge stellen populistische Bewegungen eine natürliche Reaktion auf eine Machtverschiebung vom Wahlvolk auf die Verfassungsgerichte dar. Er argumentiert, dass es sich bei Verfassungsgerichten, im Gegensatz etwa zu Parlamenten, um nicht-majoritäre Institutionen handelt. Wenn diese die Entscheidungen gewählter Mehrheitsregierungen verstärkt zurücknehmen, führe dies zu Frustration aufseiten des demokratischen Souveräns – und zu einem Kampf um und gegen die Verfassungsgerichte.
Aus einer solchen Perspektive ließe sich argumentieren, dass ein Verbotsverfahren genau die falsche Antwort auf den wachsenden Einfluss rechtspopulistischer Bewegungen wäre. Wasser auf eben jene Mühlen, die ihren Erfolg antreiben. Es ließe sich jedoch auch argumentieren, dass es angesichts gezielter Angriffen auf die Unabhängigkeit von Verfassungsgerichten (etwa in Polen unter der PiS-Regierung oder der geplanten Justizreform in Israel) jetzt darum geht, auch das deutsche Verfassungsgericht besser vor politischen Eingriffen zu schützen. Den Missmut bestimmter Teile des Wahlvolks über die Beständigkeit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder auch ökologisch notwendige Reformen gälte es dann auszuhalten – und auf politischem Wege abzubauen.
Einen anderen Weg des Umgangs zeigte jüngst der Soziologe Steffen Mau anhand der politischen Situation in Ostdeutschland auf. Mau argumentiert, dass sich dort aufgrund der Erfahrungen in der DDR eine andere politische Kultur als im Westen entwickelt hat – eine, die weniger auf Parteipolitik, sondern auf Versammlung und Protest als Mittel der Partizipation und Veränderung setzt. Eine „Demokratie der Lauten“, die nicht von heute auf morgen verschwinden wird. Statt nun einem vermeintlichen Demokratiedefizit mit einem immergleichen Werkzeugkasten zu begegnen, gelte es, diese Kultur zu verstehen und mit ihr umzugehen. Als Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie schlägt Mau eine Stärkung von Beteiligungsformaten wie Bürgerräten vor, die an politische Selbstwirksamkeitserfahrungen von Menschen im Osten anknüpfen könnten.
Institutionelle Veränderung scheint in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Baustein für die demokratische Resilienz. Dabei geht es, argumentiert Paulina Fröhlich, um die Bewahrung des demokratischen Kerns bei sich gleichzeitig ändernden Rahmenbedingungen. Dazu gehört nicht nur die Wehrhaftigkeit der Demokratie gegenüber ihren Feinden, sondern vor allem auch ihre eigene Lern- und Innovationsfähigkeit. Es scheint angesichts gegenwärtiger Entwicklungen wenig wahrscheinlich, dass rechtspopulistische Kräfte auf absehbare Zeit von der politischen Bühne verschwinden. Sie werden bleiben – und liberale Gesellschaften müssen lernen, mit ihnen umzugehen.