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Mehrsprachigkeit ist doch kein Kinderspiel!

Re-Paper
Susanne Lippert2020

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Geschrieben von Deborah Arbes

Bei te.ma veröffentlicht 18.01.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/v65y-a810

Geschrieben von Deborah Arbes
Bei te.ma veröffentlicht 18.01.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/v65y-a810

Die Mehrsprachigkeitsforschung befindet sich nicht in einem kulturellen Vakuum – sie wird beeinflusst durch die Politik und das gesellschaftliche Klima der jeweiligen Länder. Wie sich das auf Forschungsergebnisse und die Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit auswirkt, analysiert Susanne Lippert. Die Linguistin fordert eine wertneutrale Perspektive auf die Herausforderungen, die mehrsprachiges Aufwachsen mit sich bringt.

Mehrsprachigkeit kann einige Vorteile haben: So erkennt z.B. Olga Grjasnowa im eigenen mehrsprachigen Familienleben ein hohes kulturelles Gut, viele junge Menschen rechnen sich durch ihr Sprachrepertoire bessere Karrierechancen aus und Heike Wiese et al. befürworten mehrsprachigen Schulunterricht als Hebel für mehr Bildungsgerechtigkeit. Auch die linguistische Forschung erachtet sie heute als vorteilhaft. Diese allgemein positive Haltung zur Mehrsprachigkeit gab es jedoch nicht immer, betont Susanne Lippert und teilt die Mehrsprachigkeitsforschung in drei Phasen ein: 1. Bilingualismusfeindlichkeit (Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er), 2. Bililingualismuseuphorie (ab Mitte der 1960er) und 3. Normalisierung der Positionen (Gegenwart). Sie vergleicht die drei Phasen mit einem Pendel, das sich derzeit auf dem Rückweg zur Mitte befindet.

In der ersten Phase dominierte die Vorstellung, zweisprachige Kinder seien „mental verwirrte Individuen“, denn das menschliche Gehirn habe für zwei komplette Sprachen nicht genügend Kapazitäten. Die Ursprünge dieser bilingualismusfeindlichen Ansichten sind im frühen 20. Jahrhundert in den USA zu finden, berichtet die Autorin. Die vermehrte Einwanderung aus armen südeuropäischen Ländern sollte eingedämmt werden. Ein Mittel dazu waren Lese- und Schreibtests auf Englisch, die ab 1917 vor der Einbürgerung durchgeführt wurden. Mit diesen Tests an Immigrant*innen, die nur sehr geringe Englischkenntnisse vorweisen konnten, sollte bewiesen werden, dass sie nur deswegen die Sprache nicht beherrschten, weil sie über zu geringe intellektuelle Fähigkeiten verfügten. Und sogar wenn sie die Sprache gelernt hatten, wurde ihnen unterstellt, dass sie aufgrund der Sprachverwirrung – die das Sprechen zweier Sprachen bedeutete – geistig zurückbleiben würden. Ursprünglich ging es im politischen Diskurs also nicht um sprachwissenschaftliches Interesse an Zweisprachigkeit, sondern darum, die Ungleichbehandlung von Immigrant*innen zu legitimieren.

Die zweite Phase der Mehrsprachigkeitsforschung – die Bilingualismuseuphorie – begann Anfang der 1960er Jahre, als die kanadischen Forschenden Peal und Lambert1 in einer Studie einen positiven Effekt von Mehrsprachigkeit auf die Intelligenz der Partizipierenden nachwiesen. Es folgten Studien2, die weitere Vorteile von Mehrsprachigkeit herausstellten, wie zum Beispiel eine größere kognitive Flexibilität.3 Aber auch diese Studien sind in einem kulturellen Zusammenhang zu sehen. Denn zu dieser Zeit manifestierte sich in Kanada die offizielle Zweisprachigkeit in Gesetzen, und Eltern sowie Lehrende wurden dazu ermutigt, Kinder zweisprachig zu erziehen. Ein Grund für die offizielle Mehrsprachigkeit in Kanada waren laut der Schweizer Historikerin Christina Späti unter anderem die Unabhängigkeitsbestrebungen der Provinz Quebec: „Im Kontext des zunehmenden Nationalismus in Québec und dem Aufkommen einer Partei, die die Loslösung Québecs aus Kanada im Parteiprogramm hatte, bildeten der sprachliche Minderheitenschutz und die Gleichberechtigung der Sprachen wichtige Ziele der Gesetzgebung.“4  

Die Autorin betont bezüglich des kulturellen Zusammenhangs der oben genannten Studien, dass „keineswegs eine direkte Beeinflussung der Forschung von Seiten der Politik postuliert wird. Es wird hier lediglich festgestellt, dass sich Forschung nicht in einem luftleeren Raum entwickelt, sondern zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten politischen Situation. Diese politischen und gesellschaftlichen Konstellationen wirken sich indirekt auf das Forschungsinteresse aus, da sie die Grundeinstellungen der Gesellschaft und somit auch der Forscher und Forscherinnen mit beeinflussen.“ Dieser Faktor soll auch heute mitbedacht werden, fordert Lippert. Die heutige Phase der „Normalisierung der Positionen“ sei noch sehr durch die Bilingualismuseuphorie geprägt. Mythen zu den Themen Sprachenlernen und Sprachvielfalt würden zu wenig hinterfragt. 

Ein solcher Mythos sei die Betrachtung von Mehrsprachigkeit als Normalität. Dass sich mehrere Tausend Sprachen auf ca. 200 Länder verteilen, bedeute nicht zwangsläufig, dass die meisten Menschen mehrsprachig seien. In vielen Ländern dominiere im Gegensatz eine einzige Amtssprache und viele kleine Sprachen würden von der Mehrheit der Bevölkerung nicht wahrgenommen. Ein weiterer Satz, den die Autorin als Mythos bezeichnet, lautet: „Wir sind zur Mehrsprachigkeit geboren“. Gegenargumente, die unterstreichen, dass eben nicht alle Menschen zur Mehrsprachigkeit geboren sind, fänden sich in vielen migrantischen Gemeinschaften, in denen die Herkunftssprache nach und nach aus dem Alltag verschwinde.

Der dritte Mythos lautet: „Bilingualer Spracherwerb ist ein Kinderspiel“. Jürgen Meisel5 schreibt zu dem Thema: „Inzwischen besteht in der Forschung zur kindlichen Mehrsprachigkeit Übereinstimmung darin, dass Kinder, die von Geburt oder früh an mit zwei (oder auch mehr) Sprachen aufwachsen, diese ohne besondere Mühe trennen und separate Sprachkenntnisse entwickeln, ohne dass es dazu eines speziellen Trainings oder intensiver Förderungsmaßnahmen bedürfte.“ Dagegen sprechen Daten aus Lipperts Rom-Projekt6, in dem bilinguale Familien in Italien begleitet wurden und festgestellt wurde, dass „nicht alle Kinder aus bilingualen Familien wirklich zu zweisprachigen Menschen heranwachsen“. Die Familien, die an der Studie beteiligt waren, nutzten die „One Parent One Language“-Methode (OPOL), was in diesem Fall bedeutet, dass ein Elternteil mit den Kindern Italienisch sprach, das andere Elternteil Deutsch.

Lippert legt einen besonderen Fokus auf fünf Kinder, die zum Ende der Studie Deutsch nur auf einem A1- oder A2-Niveau beherrschten, sich also im Alltag kaum auf Deutsch verständigen konnten. Ihre Daten zeigen aber auch, dass 12 weitere Kinder Deutsch auf einem B1-B2-Niveau sprachen und ein Kind sogar C1-Niveau erreichte. Es ist also durchaus möglich, Kinder in einer tendenziell einsprachigen Umgebung zweisprachig zu erziehen. Dabei kann es jedoch zu großen Schwierigkeiten kommen: Manche Kinder bekommen in der Herkunftssprache zu wenig Input und sind unsicherer im Sprechen derselben, manche verweigern die Herkunftssprache komplett und antworten ausschließlich in der Umgebungssprache, wie Lippert7 (2013) ausführlich berichtet. 

Die Kompetenz von bilingualen Kindern in ihrer Herkunftssprache lässt sich nicht mit der Sprachkompetenz von monolingualen Kindern vergleichen, ist Lipperts Fazit. Wenn zu hohe Ansprüche an die Sprachfähigkeiten der Kinder gestellt werden, könne dies zu Frustration auf allen Seiten führen. Schwierigkeiten beim Spracherwerb von zwei Sprachen in einer monolingualen Umgebung zu verharmlosen und dieses Ungleichgewicht zu ignorieren, ziehe weitere Probleme nach sich und sei unfair gegenüber den bilingualen Kindern. Dies sollten Eltern, Lehrende und Forschende berücksichtigen, um bessere Bedingungen für den Spracherwerb und die Integration in Schulen zu schaffen, appelliert die Autorin.

Fußnoten
7

Elisabeth Pea, Wallace E. Lambert: The relation of bilingualism to intelligence. In: Psychological Monographs: General and Applied. Nr. 76, 1962, S. 1–23. https://psycnet.apa.org/doi/10.1037/h0093840 

Wallace E. Lambert: Effects of bilingualism on the individual. In: Hornby, Peter (Hrsg.) Bilingualism: Psychological, Social and Educational Implications. New York, Academic Press 1977, S. 15–27, ISBN 9780123563507.

Rafael Diazl & Cynthia Klingler: Towards an explanatory model of the interaction between bilingualism and cognitive development. In: Bialystok (Hrsg.): Language processing in bilingual children. Cambridge, Cambridge University Press 1991, S. 167–191, ISBN 9780511620652.

Christina Späti: Sprachenpolitik in der Schweiz und in Kanada. Prinzipien im Widerstreit: Territorialität und Personalität. In: Sprachspiegel. Heft 6, 2017, S. 162–171.

Jürgen Meisel: Vorwort. In: Elke Montanar: Mit zwei Sprachen groß werden; mehrsprachige Erziehung in Familie, Kindergarten und Schule. Kösel, München 2012, S. 8–11, ISBN 9783466305964.

Susanne Lippert: Erhalt oder Verlust der schwachen Sprache in bilingualen Familien? In: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Band 18, Nr. 1, 2013, S. 132–145.

Ebd.

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Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen teilt Sprachkompetenzen in drei Stufen ein: elementare (A), selbständige (B) und kompetente (C) Sprachverwendung. Als Abstufungen fungieren die Ziffern 1 und 2.

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Aus meinen eigenen – episodischen – Beobachtungen in meinem mehrsprachigen Umfeld erscheint mir so eine nüchtern-ambivalente Einschätzung von Mehrsprachigkeit plausibel.

Was mir an allen Studien und Positionen, die ich bisher gesehen habe, fehlt: Eine Bewertung der literarischen Sprachkompetenz. Dass ein Kind in mehreren Sprachen eine gute mündliche Kommunikationsfähigkeit entwickelt und ggf. auch als Erwachsener beibehält, lässt sich sicher oft beobachten. Aber wie ist es mit der Fähigkeit, sich in beiden Sprachen dann auch schriftlich inhaltlich und stilistisch sicher zu fühlen und Texte auf einem ähnlichen Niveau und mit ähnlicher Leichtigkeit wie die Monolingualen zu produzieren?

Das ist natürlich eine Anforderung, die nur diejenigen betrifft, die in entsprechende intellektuelle Berufe oder Lebenskontexte gehen, kann aber in diesem Fall sehr entscheidend für den Erfolg und die persönliche Zufriedenheit sein.

Ich habe Beispiele vor Augen von inzwischen erwachsenen zweisprachigen Kindern, die sich in beiden Sprachen nie ganz ebenbürtig fühlten, und sehe auch an meiner eigenen Quasi-Zweisprachigkeit, die ich allerdings später erworben habe, den Unterschied zwischen meinen mündlichen und meinen schriftlichen Fähigkeiten. Dazu kommt, dass gewissermassen die „psychische Tiefe“ der Sprachen jeweils eine unterschiedliche sein kann: Etwas niederzuschreiben, hat ja nicht nur eine informative, sondern auch eine intellektuell konstitutive, manchmal sogar eine therapeutische Wirkung. Das scheint bei der Sprache, die enger mit dem tiefen Unterbewussten verbunden ist, viel stärker in Erscheinung zu treten.

Kurz: Ich frage mich, ob man diese „literarische Kompetenz“, oder wie auch immer man es nennen will, auch einmal in Hinblick auf Multilingualität untersucht hat – und ob und wie das überhaupt machbar wäre.

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Meine Situation: Mit 6 Jahren nach Deutschland gekommen, Russisch Mutter- und Familiensprache, Zweitsprache Estnisch im Kindergarten. Ich bin im Russischen auch ziemlich sicher: Verfasse viele Posts auf Facebook, früher auch ein wenig auf ЖЖ (aka LiveJournal, eine zentrale russischsprachige Plattform, um die sich in den 00er und der ersten Hälfte der 10er Jahre die russischsprachige Blogosphäre gebildet hat).

Aber was andere, formalere Ressorts angeht (wissenschaftliche Arbeiten, Aufsätze, Artikel, formale Briefe u. ä.) fühle ich mich mit Deutsch definitiv sicherer, was natürlich mit meiner deutschen Schulbildung zu tun hat: Ich hab in der Schule nun mal hoch und runter gelernt wie man Aufsätze, Argumentationen u.ä. verfasst, während ich nie Russischunterricht in irgendeiner Form hatte.

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Ich fühle mich in beiden Sprachen auch literarisch gleichermaßen wohl und nutze beide als ”Arbeitssprachen”, aber anhand der Erfahrung mit meinen beiden Kindern möchte ich einige Beobachtungen teilen:

(1) Bilingualität ist kein Automatismus und auch Kleinkinder lernen Sprachen nicht "von allein, wenn sie nur in die Schule/Kindergarten/ deutschsprachige Umgebung kommen". Das scheint bei vielen Eltern die (total überzogene) Erwartung zu sein.

(2) Meine Tochter ist 11 und in beiden Sprachen gleichermaßen "literarisch" - zum Beispiel schreibt sie ihr Tagebuch in beiden Sprachen - mit großer Kreativität und Ausführlichkeit. Aber richtig literarisch im Russischen ist sie nicht etwa durch die russische Schule geworden, wo sie auch Aufsätze schreiben, sondern durch ein "TikTok-House" und Chats mit ihrer Freundesgruppe aus Russland. (Für Boomer: TikTok-House ist eine Gruppe von Kontentcreatern)

(3) Mein Sohn (wächst im gleichen Haushalt auf und ist ein Jahr jünger) produziert nichts Schriftliches auf Russisch (wenn er nicht muss). Aber er produziert überhaupt sehr wenig Schriftliches (nur im schulischen Kontext und dann so knapp, wie möglich)

Das ist also in unserem Fall eine Frage der Sozialisierung und auch des Typs.

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Und dann spricht Martin davon, dass es oft vorkommt, dass ein Kind in mehreren Sprachen eine gute mündliche Kommunikationsfähigkeit entwickelt und sie auch als Erwachsener beibehält, aber sich unsicher fühlt, wenn Texte verfasst werden.

Bei mir gibt es mit der erworbenen Sprache Arabisch das Gegenteil (klar, hat es dann weniger mit einer “natürlichen” Bilingualität zu tun. Im Studium und als ich noch öfter im arabischsprachigem Raum unterwegs war, konnte ich ganz ok sprechen, mittlerweile habe ich einer richtige Barriere entwickelt und es fällt mir leichter meine Gedanken (ggf. mit Wörterbuch:) aufzuschreiben, als auszusprechen. (Aber von literarisch sind wir auch da weit entfernt)

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Anekdotisch kann ich von der gegenteiligen Erfahrung zu @martin_krohs berichten, sowohl bei mir als auch aus meinem multilingualen Umfeld. Gedichte, Lieder und auch emotionsverarbeitende Texte können auch einer Zweitsprache auch leichter fallen. Es gibt weniger “Ballast” in der Fremdsprache, und dieses Mehr an Freiheit kann den kleineren Wortschatz bisweilen aufwiegen. Da stellt sich dann die Frage, wie man forscherisch diese Fähigkeit messen würde: Kreativität per Vokabularpegel zu quantifizieren, trifft es wohl eher nicht.

Ich kenne Menschen, die bewusst Therapie in einer Fremdsprache machen: Es zwingt sie, ihrer eigenen Wahrnehmung nach, zu mehr Direktheit und Ehrlichkeit. Das alles setzt natürlich ein solides Grundniveau voraus. Ich selbst lebe auch in einem trilingualen Haushalt, und das Gros der emotionalen wie logistischen Prozesse findet auf Englisch statt, niemandes Muttersprache, aber unser Mittel für diese Art von Arbeit. Das bemerkt man auch daran, dass häufig sogar zwischen Deutsch-Muttersprachler*innen auf Englisch gewechselt wird, wenn diese Domänen im Alltag auftauchen, zumindest, solange sie mit unserem Haus zu tun haben.

Daran sieht man, denke ich, dass die Wahrnehmung der psychischen und kreativen Sprachtiefe durch den Expositionsfaktor mitbestimmt wird: Englisch ist in Deutschland die Sprache der Popmusik - es leuchtet also meines Erachtens ein, dass man die ersten eigenen Songtexte auch auf Englisch zu schreiben geneigt ist. Und so begibt man sich auf der kreativen Suche auf fremdsprachliches Terrain und kartiert sein Schaffen mit diesen Worten. Das interagiert dann natürlich wieder mit eigenen Ansprüchen, mit der Bedeutung der Zielsprache in der eigenen Lebensrealität, und so weiter.

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Mir scheint, dass das, was du schreibst @julian_andrej_rott, gar nicht so sehr meiner ersten Skizze widerspricht, sondern vor allem einige notwendige Differenzierungen macht. Vermutlich kommt es wirklich auf alles an, auf alle beteiligten Faktoren: auf die konkrete Sprache, auf ihren Ort im „Sprachenkosmos“ des einzelnen Sprechers und auf den Zweck und die Umstände der Sprachverwendung. Das würde denke ich auch mit dem zusammenpassen, was @Valeria_Voelk und @Mark_ThalbergZukov berichten.

Mein oben etwas sorglos und spontan angeführtes Kriterium „literarische Kompetenz“ reicht jedenfalls ganz offensichtlich nicht aus, um diesen unterschiedlichen Rollen der unterschiedlichen Sprachen für die jeweiligen Sprecher auf die Spur zu kommen. Denn dass die Fremdsprache mehr „Ehrlichkeit und Einfachheit“ generieren kann, wie du schreibst, das kenne ich auch und sehe ich auch als ein Plus. Und ja – hier entsteht in der Tat ein Widerspruch zu meinem Aufschlag – das kann auch diesen „therapeutischen“ Effekt vereinfachen, zumindest, was die expressive Dimension angeht, das „Dinge sagen können“.

Die Frage, ob das dann im gleichem Masse transformativ ist, wie eine entsprechende Äusserung in der Muttersprache es wäre, bleibt aber immer noch offen. Ich habe bei mir immer das Gefühl, dass ich, wenn ich wirklich in einer Hinsicht ein anderer werden will durch Sprechen oder v. a. Schreiben, dieses Schreiben in Deutsch stattfinden muss. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass frühe Erfahrungen eben an diese Sprache gebunden sind. Dem gegenüber gibt mir das Russische (oder, wenn ich an meine Uni-Zeit denke, das Französische) zwar die Freiheit, mit weniger Hemmungen zu formulieren, aber ein wenig spreche ich dann auch immer über eine „fremde“ Person, nämlich über eine Person mit deutschsprachiger Kindheit. Der existenzielle Impact ist grösser, wenn ich das gleiche Thema auf Deutsch „konfrontiere“. Alles persönlich-episodische Erfarhungen, natürlich.

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Vielen Dank für all die spannenden Kommentare!

Ich bin im Verlauf des Kanals auf jeden Fall auch immer mehr zu der Ansicht gelangt, dass Mehrsprachigkeit kein Selbstläufer ist @Valeria_Voelk. Nicht nur was schriftliche, sondern auch mündliche Kompetenzen anbelangt. Die Forschung zeigt interessanterweise, dass viele mehrsprachige Menschen in Sprachtests durchschnittlich schlechter abschneiden. Ich kann das auch an meinem eigenen mehrsprachigen Alltag nachvollziehen: Mehrsprachigkeit kostet definitiv kognitive Ressourcen. Merke deutliche Unterschiede wenn ich müde bin, und mein Gehirn mehr und mehr Probleme zu haben scheint, verschiedene Sprachen auseinanderzuhalten. Mehrsprachigkeit scheint auf jeden Fall das Gehirn ganz schön zu beanspruchen, was aber eben auch viele positive Aspekte mit sich bringt. Habe ich gerade z.B. hier beleuhtet!

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Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger bin ich mir sicher, dass das Klischee “Mehrsprachigkeit ist ein Selbstläufer” überhaupt ernsthaft vertreten wird oder dass viele das denken. Wenn alle Sprachkompetenzen “ganz nebenbei” in der Familie erlernt würden, bräuchte es ja keinen Schulunterricht mehr dafür. Deutschunterricht gibt es offensichtlich trotzdem, und (mehr) herkunftssprachlicher Unterricht wird auch von Linguist*innen und Forschenden im Bildungsbereich gefordert (z.B. hier und hier). Das heißt zumindest diese Autor*innen glauben nicht an das “Selbstläufer”-Klischee.

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